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„An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, ein Roßhändler, namens Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit.“
So beginnt einer der besten Meister der deutschen Syntax Heinrich von Kleist vor zweihundert Jahren seine berühmte Novelle „Michael Kohlhaas“, die ihren Ursprung nach Angaben des Autors in einer alten Chronik aus dem 16. Jh. hat. Dieser Satz besteht aus dem zweiwertigen Verb „leben“ und drei Satzgliedern: Lokalbestimmung „An den Ufern der Havel“, Temporalbestimmung „um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts“ und Subjekt „ein Roßhändler, namens Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit“. Da der Autor über ein Ereignis aus der Vergangenheit berichtet, nennt er, wie heute in der Zeitung üblich, gleich am Anfang den Ort, den Zeitpunkt und den Hauptakteur des Geschehens. Wir erfahren, dass der Hauptakteur „ein Roßhändler, namens Michael Kohlhaas“ ist und dazu noch einige Informationen aus seiner Biografie, mit denen bei den Lesern das Interesse an der Novelle erweckt werden sollte: „einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit“. Dass der „Roßhändler“ „Michael Kohlhaas“ heißt, wissen wir aufgrund der Bedeutung des Wörtchens namens, das diese zwei Nominalphrasen verbindet (oder auch trennt). Und um dieses Wörtchen geht es in diesem Text.
Der Text etabliert eine neue analytische Hinsicht auf soziolinguistische Fragestellungen unter dem Titel soziale Präsenz, ausgehend von bestehenden theoretischen Annäherungen an das Verhältnis von Sprechen und Sozialität. Ziel des Ansatzes ist eine umfassende Analyse menschlichen (Sprach)Handelns in der Lebenswelt, die unterschiedliche Formen von symbolischer und praktischer Selbstbehauptung und darauf bezogener Formen gesellschaftlicher Anerkennung in ihrer jeweiligen Bedeutung für die praktische Aushandlung sozialer Regime der Sichtbarkeit in den Blick nimmt. Die theoretischen Setzungen werden in der Folge am Beispiel regionaltypischer Ausprägungen des Deutschen in Österreich empirisch überprüft. Die Analyse von Social-Media-Diskussionen aus der App „Jodel“ zeigt dabei, dass typisch österreichische Formen konstitutiver Bestandteil der digitalen Schriftlichkeit junger Österreicher/-innen sind, die diese Ressource gezielt einsetzen, um regionale Gruppenzugehörigkeit zu markieren. In ähnlicher Weise belegen die Einstellungen junger Österreicher/-innen die soziale Anerkennung typisch österreichischer Sprechweisen (besonders des Regiolekts) als bevorzugtes Mittel der informellen und Nähekommunikation mit identitätsstiftender Funktion. Die Analyse öffentlicher Schriftlichkeit in Wien mit Hilfe von Daten aus dem Projekt „Lingscape“ zuletzt verdeutlicht, dass typisch österreichische Formen in der städtischen Sprachlandschaft verankert sind, dabei aber vor allem der Herstellung soziokultureller Nähe in institutioneller und ökonomischer Kommunikation dienen.
Der Beitrag untersucht korpuspragmatisch am Beispiel der Präpositionalphrasen mit gegen Varianten der Gegenwehr in der Zeit des Nationalsozialismus. Im Vordergrund stehen Flugblätter, Programmschriften und Zeitungsartikel, die unter den Bedingungen von Verfolgung, Exil oder Desertation kollaborativ verfasst wurden. Eine Spur zu diesen Dokumenten, die die Heterogenität und die Konfliktlinien des Widerstands auf Textebene widerspiegeln, legt die Korpusauswertung mithilfe der soziopragmatischen Annotationen aus dem Paderborner HetWik-Projekt. Methodisch werden gegen-Phrasen anhand ihrer Füllerprofile und Kollokatoren einzelnen Handlungsmustern zugeordnet. Im Ergebnis zeigt sich der Solidarisierungseffekt von situativ verfestigten Kollokationen sowie eine (selbst)kritische Reflexion von NS-Feindschaften.
Im Streit um Migration soll der Gebrauch von Disclaimern in erster Linie ein positives Bild des Produzenten liefern oder wenigstens Ansprüche auf die Berechtigung seiner kritischen Stellungnahme erheben, ohne dass der Produzent als Rassist abgestempelt wird. Im vorliegenden Beitrag werden die Ergebnisse einer Fallstudie über den Gebrauch eines solchen Disclaimers in Deutschland und in Italien zusammengefasst, nämlich von „Ich bin kein Rassist, aber“ und seiner italienischen Entsprechung „Non sono razzista, ma“. Es wird gezeigt, (i) wie diese Disclaimer zum Ausdruck ausländerkritischer Stellungnahmen verwendet werden und (ii) wie ihre Verwendung in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird.
Die sprachliche Situation im Kanton Graubünden, wo eine Vielzahl von italienischen, romanischen und deutschen Varietäten in lang andauerndem Kontakt stehen, ist bisher nur wenig beschrieben, eine wahrnehmungslinguistische Untersuchung steht noch ganz aus. Ausgehend von der Annahme, dass Salienz abhängig vom eigenen sprachlichen System und vom Sprecherwissen ist, wurde ein Experiment konzipiert, bei dem Hörer aus Graubünden und Zürich Aufnahmen aus drei Bündner Orten, in denen Rätoromanisch und Deutsch in unterschiedlichen Kontaktverhältnissen stehen, hören und kommentieren sollten. Dabei konnte gezeigt werden, dass Bündner aufgrund ihres Sprecherwissens über die Variation in Graubünden andere Merkmale wahrgenommen und die Aufnahmen anders charakterisiert haben als Zürcher.
Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dem Einsatz von dialektalen Merkmalen in Werbespots für den deutschen und österreichischen Markt sowie mit seinen Funktionen am Beispiel von Iglo (Lebensmittelbranche, Tiefkühlkost). Im Zentrum stehen dabei folgende Fragen: Welche dialektalen Merkmale welcher sprachlichen Beschreibungsebenen (Phonetik/Phonologie, Morphologie, Lexik) werden in welchen Textteilen der Spots verwendet? Wird dabei auch multimodal und multisensorisch auf die betreffende Region Bezug genommen? Die Analysen zeigen auch, inwiefern sich der Gebrauch dieser Merkmale in den deutschen und österreichischen Spots unterscheidet, und ob der Dialektgebrauch in den Werbespots (Auswahl der Merkmale, Kontexte/Gesprächssituationen) mit den Ergebnissen von Studien zum Gebrauch und zur Wahrnehmung von Dialekten im Allgemeinen übereinstimmt.
In der vorliegenden Studie steht die itzgründische Dialektlandschaft innerhalb der ehemaligen Grenzgebiete in Thüringen und Bayern im Fokus. Auf Basis des „integrierenden Ansatzes“ werden Real-Time-Daten und Apparent-Time-Daten miteinander kombiniert und die Frage geklärt, ob an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze eine neue Dialektgrenze entstanden ist. In diesem Zusammenhang wird sowohl die Wahrnehmung als auch die Kompetenz der Grenzbewohner untersucht. So ist es möglich, die objektive, dialektgeografische Struktur (mittels Variablenanalyse) und die subjektive, wahrnehmungsdialektologische Struktur (mittels Hörerurteilstests) darzustellen.
„Man sollte den Buchstaben des Gesetzes ins Alphabet aufnehmen“ : hintergründige Wörtlichkeiten
(2005)
Die historische Variation als eine der zentralen Variationsdimensionen der Sprache ist gekennzeichnet durch große Variantenvielzahl, Fluktuation der Häufigkeit und zeitliche Überlagerung unterschiedlich alter Muster, aber auch durch Distributionsverschiebungen von Varianten. Sie weist enge Bezüge zur synchronen Mikro- und Makrovariation auf. Die Muster historischer Variation stellen zudem wichtige Argumente für die grammatiktheoretische Analyse dar. Die Spezifik und Dynamik historischer Variation wird exemplarisch anhand der Entwicklung der Vergleichskonstruktionen in der Geschichte des Deutschen veranschaulicht, die durch den Komparativzyklus, d.h. wiederholte Distributionsverschiebungen der Vergleichspartikeln von Äquativ- zu Komparativvergleichen gekennzeichnet ist.
Wie selbstbestimmt können wir das Internet nutzen? Wie viel wissen wir darüber,welche digitalen Spuren wir setzen und wer diesen hinterher spürt?
Wie werden die beim Surfen erzeugten Daten von Dritten weiter verwendet – mit und ohne unser Wissen? Und ist die gefühlte Nacktheit in Zeiten der digital ausspähbaren, scheinbaren Transparenz wirklich akut oder durch traditionelle analoge Denk- und Erfahrungsstrukturen geprägt?
Seit 30 Jahren besteht die Mauer als physische Grenze zwischen den ehemaligen beiden deutschen Staaten nicht mehr. Aus linguistischer Perspektive kann von einer „sprachlichen Vereinigung“ ausgegangen werden, jedoch scheint sich die Mauer mental und sprachlich als diskursive MauerindenKöpfen festgesetzt zu haben. Mittels der draw-a-map-Methode und der Priming-Methode der kognitiven Psychologie wird im vorliegenden Beitrag untersucht, ob sich eine solche Mauer auch in den Köpfen jünge-rer Personen finden lässt, die sozialisiert wurden, als die beiden deutschen Staaten nicht mehr existierten. Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass sich Unterschiede unter den Priming-Bedingungen bzgl. der Sprechproben, der Herkunft der Proband/-innen und den Variablen Verortung, Benennung und Assoziation finden lassen
Das „Lautdenkmal reichsdeutscher Mundarten zur Zeit Adolf Hitlers“ ist eine Sammlung von 300 Dialektaufnahmen aus Deutschland sowie weiteren 100 Aufnahmen aus Österreich, die, initiiert vom Reichsbund deutscher Beamter, in den Jahren 1936 bis 1938 erhoben wurden. In der aktuellen Forschung ist noch nicht geklärt, ob die Sprecher in den Aufnahmen frei sprechen durften oder eher auf Basis eines vorbereiteten bzw. von den Initiatoren vorgegebenen Skripts agierten. Ziel des vorliegenden Beitrages ist es dementsprechend, die sprachlichen und inhaltlichen Besonderheiten in zwei Aufnahmen aus Bayern und Schleswig-Holstein herauszuarbeiten und damit die Frage nach einer thematischen Steuerung zu beantworten.
In diesem Beitrag soll ein Nachschlagewerk zur arealen Variation in der Grammatik des Deutschen kurz vorgestellt werden: die in Form eines Online-Wikis erschienene „Variantengrammatik des Standarddeutschen“. Sie ist das Hauptergebnis einer langjährigen Zusammenarbeit der Projektgruppe „Variantengrammatik“ unter der Leitung der Autorin und der Autoren dieses Beitrags. Für das Projekt wurde ein areal gewichtetes und annotiertes Korpus erstellt, das aus Lokal- und Regionalteilen der Online-Ausgaben von 68 regional verbreiteten Zeitungen besteht. Die ausgewählten Zeitungen sind nach fünfzehn Arealen des zusammenhängenden deutschsprachigen Raums unterteilt. Das tokenisierte, lemmatisierte und nach Wortarten annotierte Gesamtkorpus, auf das sich die Variantengrammatik stützt, umfasst ca. 600 Millionen Wörter.
„XYZ hat dich angestupst". Romantische Erstkontakte bei Facebook - ein Schnittstellenphänomen?
(2012)
Am Kontaktaufnahmeverhalten in Sozialen Netzwerken - so die These des vorliegenden Aufsatzes - kann nachvollzogen werden, wie kommunikative Verhaltensformen in romantischen Kontexten aus On- und Offline-Welt Zusammenwirken und einander ergänzen. Anders als Online-Kontaktbörsen dienen Soziale Netzwerke in erster Linie der Pflege bereits offline bestehender sozialer Kontakte. Dennoch werden sie auch genutzt, um neue Kontakte zu etablieren, und als eine virtuelle Erweiterung einer Offline-Lebenswelt begriffen, in der fremde, aber als attraktiv kategorisierte Profilidentitäten' kontaktiert werden können. Mit (sprachlichen) Strategien wird einerseits das für Offline-Situationen typische Flirtverhalten simuliert, andererseits aber auf das charakteristische Vorgehen in Online-Kontaktbörsen zurückgegriffen. Auf der Basis solcher Beobachtungen werden Soziale Netzwerke als neuer Kommunikationsraum gedeutet, in dem Online- und Offline-Welt diffundieren - eine These, die aufschlussreich ist für eine Theorie kirchlicher Praxis in den Kommunikationsräumen des Web 2.0.
Der Beitrag beleuchtet die seit den Anfängen der Fachgeschichte geführte Debatte um die Positionierung der Sprachwissenschaft zur bzw. in der Gesellschaft mit Blick auf die Frage, inwieweit das Fach eine Deutungshoheit in sprachreflexiven Fragen beanspruche, beanspruchen könne oder solle. Es werden vier Strategien diskutiert, mit denen versucht wurde und wird, einen solchen Anspruch in der Gesellschaft zu proklamieren bzw. zu zementieren. Vor dem disziplinären Hintergrund der soziolinguistisch-sprachanthropologischen Sprachideologieforschung, die auch linguistische Positionen unter Sprachideologien fasst, werden die sprachwissenschaftlichen Positionierungsversuche dabei als diskursiv gerahmte, aber kontextsensitive Manöver in einem ‚Kampf um sprachideologische Deutungshoheit‘ verstanden.
♀ ☺ = ♂ ☺? Oder: Das Gelächter der Geschlechter 2.0: Emojigebrauch in der WhatsApp-Kommunikation
(2020)
Praktiken des 'doing', 'undoing' und 'indexing' von Gender finden sich auch in der computervermittelten Kommunikation, und es ist zu erwarten, dass sie sich dort ganz besonders im Gebrauch von Emojis niederschlagen. Zu erwarten ist dies, weil Emojis ein wichtiges Mittel zur Hervorbringung von Nähe, Emotionalität und Gruppenzugehörigkeit sind, und Gender ist ein Parameter, der bei diesen Aspekten eine Rolle spielt. In dem vorliegenden Beitrag soll auf der Basis der Mobile Communication Database 2 (MoCoDa2), einer Datenbank mit WhatsApp-Interaktionen, aus quantitativer und qualitativer Perspektive gefragt werden, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede sich im Emojigebrauch von Männern und Frauen finden lassen.