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Eine syntaktische Besonderheit der kontinentalwestgermanischen Sprachen ist die Bildung satzfinaler Verbalkomplexe (" ... dass sie das Buch gelesen haben muss"), für die ein hohes Maß an sprach- bzw. dialektübergreifender und idiolektaler Verbstellungsvariation charakteristisch ist. Der niederdeutsche Verbalkomplex gilt in Überblicksdarstellungen als streng kopffinal, wobei bisher – anders als für niederländische und hochdeutsche (besonders: oberdeutsche) Mundarten – kaum empirische Studien vorliegen. Der Aufsatz präsentiert eine deskriptive Analyse des zweigliedrigen Verbalkomplexes im Märkisch-Brandenburgischen, dem südöstlichsten der niederdeutschen Dialektverbände.
Im Gegensatz zum Standarddeutschen und anderen niederdeutschen Mundarten wie dem Nordniederdeutschen, weist das Brandenburgische selbst bei nur zwei verbalen Elementen in der rechten Satzklammer Variation auf ("dass sie lesen kann/kann lesen"). Anhand von Tonaufnahmen aus dem bisher kaum erschlossenen DDR-Korpus wird folgenden Fragen nachgegangen: Welche Verbstellungsvarianten sind in welchen Syntagmen möglich bzw. werden präferiert? Welche Unterschiede bestehen zwischen Haupt- und Nebensatzkomplexen? Wie verhält sich der brandenburgische Verbalkomplex in Bezug auf nicht-verbale Intervenierer (sog. Verb Projection Raising)? Wie verhalten sich Modal- und andere infinitivregierende Verben unter Perfekteinbettung (d.h. in stddt. Ersatzinfinitivkontexten)?
Am Ende steht eine erste typologische Einordnung des brandenburgischen Verbalkomplexes im Vergleich mit anderen kontinentalwestgermanischen Varietäten, wobei sich areallinguistisch interessante Ähnlichkeiten mit dem südlich angrenzenden Ostmitteldeutschen zeigen.
Aus der Perspektive der Sprachbenutzerinnen ist der Genitiv vom Sprachverfall bedroht. Jedoch lässt sich in der Geschichte des Deutschen kein geradliniger Abbau nachweisen. Die kurze Genitivendung -s (aus -es) setzte sich zwar schon im Frühneuhochdeutschen als die häufigere Variante durch, im weiteren Sprachwandel entwickelte sich dann aber eine komplex gesteuerte Variation beider Endungen. Mit dem Abbau des verbalen und attributiven Genitivs gehen zwar wichtige Funktionsbereiche verloren, doch zeichnet sich in der neuesten Sprachgeschichte ein unerwarteter Aufbau des Genitivs als Präpositionalkasus ab. In diesem Beitrag wird dafür plädiert, dass die formale und funktionale Entwicklung des Genitivs stark durch sprachliche Unsicherheit beeinflusst wurde und wird, die eine Reaktion auf bestehende Varianz darstellt. Es wird dafür argumentiert, dass die stilistische Aufwertung der langen Genitivform und des Genitivs gegenüber dem Dativ den Sprach-wandel aufhält bzw. sogar in eine andere Richtung lenkt.
Der Fokus des Beitrags liegt auf Spracheinstellungen von Deutschlehrerinnen und Deutschlehrern an weiterführenden Schulen in Österreich, Deutschland und der Schweiz. Auf Basis einer aktuellen und großangelegten empirischen Studie wird der Frage nachgegangen, welche Einstellungen Lehrpersonen in den drei Ländern zu Variation und Wandel des Deutschen und seinen Varietäten haben. Neben der quantitativen und qualitativen Analyse von ausgewählten Einzelergebnissen setzt sich der Beitrag zum Ziel, mittels des Klassifizierungsverfahrens einer Clusteranalyse interindividuelle Einstellungsmuster herauszuarbeiten und diese — in einem zweiten Schritt — auf ihre soziodemographische Zusammensetzung hin zu analysieren.
Die Vorstellung eines Verfalls der deutschen Sprache lässt sich mindestens bis in das 16. Jahrhundert zurückverfolgen, als Schulmeister sich beschwert haben, dass ihre Schüler wegen der um sich greifenden Variation nicht mehr wüssten, was korrektes Deutsch sei. Ähnliche Vorstellungen treten etwa gleichzeitig in anderen europäischen Ländern auf und können vielleicht mit dem langsamen Ersatz des Lateins als vorherrschender Sprache des Schrifttums und der Bildung in Zusammenhang gebracht werden. Sie beruhen auf verbreiteten irrtümlichen Annahmen über das Wesen der Sprache, insbesondere dass die zugrundeliegende Form jeder Sprache homogen und unwandelbar sei und seit sehr langem — eventuell seit Babel — so existiert habe. Diese Annahmen muss man mit Watts (2011) als Mythen werten, sie sind jedoch sehr beharrlich, und in der frühen Neuzeit dienten sie als Grundlage für die Erschaffung der heutigen deutschen Standardsprache, die aus diesem Grunde genauso wie alle anderen europäischen Kultur- oder Standardsprachen eigentlich als ein rezentes kulturelles Artefakt anzusehen ist.
In diesem Beitrag wird anhand von Material aus einem neuen elektronischen Korpus der deutschen Sprache des 17. und 18. Jahrhunderts gezeigt, wie die Standardsprache entstanden ist als Ergebnis dieser Annahmen sowie aus der Vorstellung, nur auf diese Weise sei die deutsche Sprache vor dem endgültigen Verfall zu retten. Im Laufe dieses Vorgangs wurde wo möglich jede Variation aus der Schriftsprache eliminiert und dabei auch sprachliche Varianten stigmatisiert, die heute noch häufig sind, auch wenn sie als „substandard“, „nicht korrekt“ oder „nicht hochsprachlich“ gelten. Auch wurden Regeln des „guten“ hochdeutschen Sprachgebrauchs festgelegt (oder erdacht), die Muttersprachler im spontanen Gespräch immer noch kaum beachten. Aber die Sprachgeschichte lehrt, dass Variation und Wandel nicht zum Verfall der Sprache führen, sondern die dynamische Flexibilität gewährleisten, die für die Sprache nötig ist, wenn sie allen sozial und kulturell erforderlichen Bedürfnissen der menschlichen Kommunikation gerecht werden muss.
Die Normierung der deutschen Standardaussprache geht in ihren Ursprüngen auf die 1898 durch die Siebs-Kommission beschlossenen Regelungen für die deutsche Bühnenaussprache zurück. Seit 1964 bildet der Nachrichtensprecher bei der Ausübung seines Berufs die Grundlage für die gegenwärtigen deutschen Aussprachekodizes. Diese eingeschränkte empirische Basis zusammen mit einem primär präskriptiven Anspruch der Kodifikatoren führt dazu, dass auch das aktuellste Aussprachewörterbuch des Deutschen (DAW) in vielen Fällen den tatsächlichen Standardsprachgebrauch in Deutschland nur unzureichend repräsentiert. Dies wird im vorliegenden Beitrag durch den Vergleich mit Sprachdaten aus dem Korpus „Deutsch heute“, das Lese- und Spontansprache v.a. von Oberstufenschülern am Gymnasium aus dem ganzen deutschen Sprachraum enthält, anhand von acht unterschiedlichen sprachlichen Phänomenen gezeigt. Der Beitrag schließt mit einem Plädoyer für realitätsnähere Kodifikationen, die sich am Sprachgebrauch der „educated speaker“ orientieren (wie es v.a. im englischsprachigen Raum der Fall ist), weil sie der aktuellen Sprachsituation im Deutschen weit besser Rechnung tragen als die derzeit existierenden Kodizes.