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Die zentrale Frage der Jahrestagung „Wie viel Variation verträgt die deutsche Standardsprache?“ wird anhand zweier enger gefasster Fragen behandelt. Die erste lautet: „Wo ist linguistisch die Grenze der Standardsprechsprache anzusetzen?“ Die zweite lautet: „Bis zu welchem Grad der Abweichung von der kodifizierten Norm beurteilen naive Hörer regionale Varianten noch als standardsprachlich?“
Die erste Frage wird im Rahmen der Theorie der Sprachdynamik expliziert und beantwortet. Konstitutiv für das interaktiv-kognitive System ‚Sprache‘ sind die Dimensionen ‚Zeitlichkeit‘ und ,Raum‘. Jede sprachliche Interaktion vollzieht sich in der Zeit, zeitlich determiniert sind die kognitiven Reflexe der sprachlichen Interaktionen und die interindividuelle Abstimmung des sprachlichen Wissens und der sprachlichen Konventionen. Die jeweilige Verfasstheit einer Einzelsprache und ihrer Standardvarietät ergibt sich aus dem Nebeneinander von areal determinierten Mesosynchronisierungen, in denen Individuen ihr sprachliches Wissen in Situationen personellen Kontaktes abstimmen, und von Makrosynchronisierungen, mit denen sich die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft unabhängig vom personellen Kontakt an einer gemeinsamen Norm ausrichten. Die zunächst großlandschaftlichen Oralisierungsnormen (entstanden um 1700) der einen literalen Standardvarietät unterliegen seit 70 Jahren einem massiven Umwertungsprozess. In dem Maße, in dem die durch die mündlichen Massenmedien verbreiteten neuen nationalen Oralisierungsnormen des Deutschen kommunikative Präsenz erlangten, wurden die alten Prestigesprechlagen als regional begrenzt wahrgenommen und zunehmend in einem landschaftlich sehr differenziert verlaufenden Prozess abgewertet. In dem heutigen Kontinuum der verschiedenen an der literalen Norm ausgerichteten Sprechlagen kann unter Rückgriff auf den kognitiv fundierten Begriff der Vollvarietät eine klare Abgrenzung von standardsprachlichen und nichtstandardsprachlichen Sprechlagen vorgenommen werden.
Zur Beantwortung der zweiten Frage werden rezente empirische Studien vorgestellt, deren Datenbasis standardsprachlich intendierte Äußerungen ungeschulter Sprecher in authentischen Sprechsituationen sind. Die in den entsprechenden Sprachaufnahmen beobachteten Regionalismen wurden dabei 1. empirisch-linguistisch analysiert und 2. in Beurteilungstests durch naive Hörer auf ihre Übereinstimmung mit der Standardsprache hin bewertet. Das überraschende Resultat: Die Hörerbeurteilungen in verschiedenen Regionen des Deutschen stimmen sehr weitgehend mit der theoretisch hergeleiteten Abgrenzung überein.
Zum Abschluss des Beitrages wird dann eine Bestimmung der Standardsprache und ihrer Oralisierungsnormen vorgenommen werden, die einerseits der konstitutiven Zeitlichkeit und Räumlichkeit einer jeden Sprache gerecht wird und dennoch eine klare Unterscheidung der Standardvarietät von regionalsprachlichen Sprechlagen erlaubt.
Vielbeachtete neue Studien zeigen, dass zwischen aktuellem ökonomisch relevantem Handeln und den traditionellen Dialekträumen ein signifikanter Zusammenhang besteht. In dem Beitrag wird dieser Zusammenhang aus der Dynamik der modernen Regionalsprachen erklärt. Unter dem Druck der omnipräsenten Standardsprache wird einerseits das alte landschaftliche Hochdeutsch zum Regiolekt um- und abgewertet, andererseits hat sich im Regiolekt die alte sprachraumkonstituierende und identitätsstiftende Funktion der großräumigen Dialektlandschaften bewahrt. In Abhängigkeit von der diffusionsabweisenden oder diffusionslizensierenden Qualität sprachkognitiver Gegensätze fallen alte Dialektgrenzen mit den Grenzen regiolektaler Neuerungsräume zusammen. Da für die Sprecher die sprachkognitiven Gegensätze, die sich hinter den vermeintlich geringen, die Verstellbarkeit nicht behindernden Unterschieden zwischen benachbarten Regiolekten verbergen, nicht erkennbar sind, bewerten sie diese nicht linguistisch-regional, sondern emotional, auf der Beziehungsebene und ästhetisch. Die „mentalen Gegensätze“, die die Raumwahrnehmung konstituieren, beruhen auf empirisch zugänglichen sprachkognitiven Differenzen. Die kulturelle Identität hat — jedenfalls soweit es die modernen deutschen Regionalsprachen betrifft — eine direkte linguistische Basis.