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Der Anlass dieser Untersuchung war zunächst anekdotische Evidenz: Eines der Kinder der Autor*innen macht 2022 Abitur und las in ihrer gesamten gymnasialen Laufbahn genau eine ›Ganzschrift‹ einer Autorin: Die Judenbuche von Annette von Droste-Hülshoff. Zweifellos ein lesenswerter Text, aber konnte es wirklich sein, dass man in Deutschland 2022 Abitur macht, sogar Deutsch-Leistungskurs gewählt hat und sonst kein Buch einer Autorin im Deutschunterricht liest? Auch in den Pflichtlektüren für das Deutschabitur ist im entsprechenden Bundesland bei den empfohlenen Texten kein Roman und kein Drama einer Verfasserin verzeichnet. Neugierig geworden, recherchierten wir nach einer Liste, welche Literatur für den Deutschunterricht an Gymnasien in Baden-Württemberg (wo die Anekdote sich ereignete) insgesamt empfohlen wurde, und fanden auf den Seiten des Kultusministeriums eine umfangreiche Liste, auf der 298 Werke verzeichnet sind. Eine Auswertung nach dem Geschlecht der Verfasser*innen ergab, dass von den Einträgen auf dieser Liste 31 Titel bzw. Autor*innen (von) Frauen sind, d.h. rund 10 %.
Die Tagung Kommunikative Praktiken im Nationalsozialismus im virtuellen Paderborn hatte zum Ziel, die unterschiedlichen Perspektiven der geschichts- und sprachwissenschaftlichen NS-Forschung unter dem Dach der Praxeologie zusammenzubringen und so zu koordinieren, dass möglichst viele Anknüpfungspunkte für ein gemeinsames Verständnis der Hervorbringung von ns-spezifischen Deutungsrahmen entstehen (vgl. allgemein als Forschungsüberblick dazu Scholl 2019). Dabei haben sich Unterschiede in der Definition und Reichweite von kommunikativen Praktiken gezeigt, mehr noch aber wurden konvergierende Verständnisse freigelegt. Diese richten sich vor allem auf die kommunikative Bearbeitung zentraler Diskursgegenstände wie Gemeinschaft, Arbeit oder Freiheit durch sprachliche o. a. Verfahren, die situiert und unter konkreten historischen Bedingungen aus einem bestimmten Akteurskreis heraus entstehen.
Der Beitrag untersucht Bedeutungszuschreibungen an den 30. Januar 1933 während des Nationalsozialismus. Ausgehend von der Beobachtung des hohen historisch-symbolischen Gehalts, der diesem Datum auch heute noch anhaftet, wird anhand von charakteristischen Belegstellen gezeigt, mit welchen Aufladungen die Ereignisse dieses Tages während der NS-Zeit versehen wurden, sowohl von Seiten wichtiger Instanzen des NS-Regimes, aber auch durch die Ko-Konstitution und teils strategisch-funktionale Aneignung dieser Deutungsmuster durch einzelne Mitglieder der integrierten Gesellschaft. Im Zentrum steht nicht so sehr eine spezifische kommunikative Praktik, sondern die Beobachtung, dass ein zentrales Referenzdatum des Nationalsozialismus, der 30. Januar 1933 als ›Tag der Machtergreifung‹, in unterschiedlichen kommunikativen Praktiken zur Anwendung kam bzw. dass die ›historische‹ Bedeutung dieses Datums in unterschiedlichen kommunikativen Praktiken konstituiert wurde.
Die nationalsozialistische Gesellschaft war geprägt von vielgestaltigen kommunikativen Praktiken des sozialen und auch gewaltvollen Ein- und Ausschlusses. Gleichzeitig bildeten sich durch Widerstandshandlungen vielfältige Gegendiskurse heraus. Der Sammelband nimmt konkrete Beispiele kommunikativer Praktiken während des Nationalsozialismus in den Blick und fragt speziell danach, inwiefern diese themen-, textsorten- und akteursspezifisch gebunden waren.