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Anhand der Rückmeldungen auf eine Umfrage unter den Mitgliedern der Organisation EFNIL (European Federation of National Institutions for Language) wird in diesem Artikel erfasst, wie die orthographische Norm in den Staaten Europas etabliert und vermittelt wird. Es wird unter anderem beleuchtet, welche Prinzipien bei der Erstellung der Norm angewandt werden, in welchen Teilen der Gesellschaft die Regeln gelten, wie sie an die Öffentlichkeit vermittelt werden, inwieweit sie eingehalten werden, ob es alternative Normen gibt, und mit welchen Mitteln Veränderungen im Sprachgebrauch erfasst und berücksichtigt werden.
Die normgerechte Kommasetzung ist im Deutschen deklarativ und sehr elegant von Beatrice Primus (1993, 2007) erfasst worden. Sie bindet Kommas primär an syntaktische Konzepte wie ‚Satzgrenze‘ und ‚Subordination‘. Nun gibt es allerdings ein Komma, das sich nicht ins System fügen will, das aber immer häufiger wird: das Vorfeldkomma wie in Gegen so eine starke Übermacht, konnten die deutschen Truppen nichts mehr ausrichten. Dieser Beleg stammt aus einer rezenten Abiturarbeit. Hier wird – entgegen den geltenden Rechtschreibregeln – das Vorfeld der Sätze mit einem Komma abgetrennt; es handelt sich um systematische Abweichungen von der Norm. Wir können die Faktoren, die ihre Verteilung steuern, empirisch gut erfassen. Weit weniger klar ist, ob diese Beobachtungen theoretische Konsequenzen haben sollten, und wenn ja, welche. Das soll in diesem Beitrag diskutiert werden, neben einigen anderen Problemfällen, die die Empirie der Theorie beschert.
Das Ziel des Beitrages ist es, die Orthografiereform 1996–2006 in den Entwicklungsprozess der deutschen Rechtschreibung seit der Herausbildung der Einheitsorthografie einzuordnen, ihre Stellung in diesem Prozess zu kennzeichnen und ihre Ergebnisse zu benennen. Ausgehend von einer Charakterisierung der besonderen Merkmale der Orthografie als Norm der Schreibung sowie des Begriffes Orthografiereform, werden zunächst die Endphase der Herausbildung der deutschen Einheitsorthografie und ihr Abschluss durch die Orthografiereform von 1901 beschrieben. Dem folgt die Darstellung der Besonderheiten der deutschen Orthografieentwicklung im 20. Jahrhundert bis zum Jahr 1996. Ein wichtiger Bestandteil des Beitrages ist dann die Herausarbeitung der Grundlagen und Bestimmungsfaktoren einer Orthografiereform unter heutigen Bedingungen und die Anwendung dieser Grundsätze auf den Prozess der Entstehung und Umsetzung der Orthografiereform 1996–2006. Abschließend werden die Ergebnisse dieses Prozesses in vier Punkten zusammengefasst die auch gleichzeitig die Bedeutung dieser Sprachlenkungsmaßnahme in der deutschen Orthografiegeschichte kennzeichnen.
Das Verhältnis von Norm und Schreibgebrauch bestimmt die Orthografieforschung und den orthografischen Diskurs nicht erst seit der Rechtschreibreform 1996. Wurde der Normbegriff lange Zeit als relativ statische Größe verortet, so erhielt er durch im 21. Jahrhundert verstärkt zu beobachtende Schreibwandelprozesse signifikante Impulse für Modifikationen, die eine offenere Entwicklung einleiteten. Besonders deutlich ist dies an Fremdwörtern und insbesondere an Fremdwort-Neologismen abzulesen. So belegt die empirische Beobachtung von Anglizismen, wie soziokulturelle Entwicklungen Sprach und Schreibveränderungen bewirken. Mit Bezug auf das Amtliche Regelwerk wird gezeigt, wie ein neu herausgebildeter Usus zur Modifizierung einzelner Regeln und Schreibungen führen kann und damit auch zu einem flexibleren, dynamischeren Normbegriff.
Vorwort
(2024)
Thema der 59. Jahrestagung des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache war vom 14. bis zum 16. März 2023 erstmals nach mehreren Jahrzehnten wieder die Orthografie des Deutschen, und zwar „in Wissenschaft und Gesellschaft“. Einen unmittelbaren Anlass dafür bildete der bevorstehende Abschluss der siebenjährigen Arbeitsphase des Rats für deutsche Rechtschreibung Ende 2023, dessen Tätigkeit das IDS seit seiner Gründung wissenschaftlich begleitet. Aber auch die Orthografieforschung selbst hat sich seit der Rechtschreibreform im Jahr 1996 in einer Weise entwickelt, dass die Wahl dieses schriftlinguistischen Querschnittsthemas angezeigt erschien.
Für die spezifischen Bedürfnisse der Schreibbeobachtung wurde das Orthografische Kernkorpus (OKK) als virtuelles Korpus in DeReKo entwickelt. Mit derzeit rund 14 Mrd. Token deckt es den Schriftsprachgebrauch in den deutschsprachigen Ländern im Zeitraum von 1995 bis in die Gegenwart ab. Der Zugriff über die Korpusanalyseplattform KorAP erlaubt nicht nur die Nutzung verschiedener Annotationen, sondern über die API-Schnittstellen auch die Einbindung in diverse Auswertungsumgebungen wie RStudio über den RKorAPClient und macht es so für zahlreiche Analyse- und Visualisierungsmöglichkeiten zugänglich.
Der Beitrag skizziert die Genese und Komplexität des Konzepts ‚Usuelle Wortverbindung‘ (UWV) vor dem Hintergrund der korpuslinguistischen Wende. Die Möglichkeit, sprachliche Massendaten untersuchen zu können, erbrachte neue Einsichten in Hinblick auf Status, Form, Funktion, Festigkeit und Variabilität dieser zentralen Wortschatzeinheiten – gleichzeitig aber auch in Hinblick auf ihre Unschärfen und vielfachen Überlappungen. Eine der folgenreichsten Erkenntnisse ist, dass UWVs auf vorgeprägten Schemata und Mustern basieren und in ein komplexes Netz von Ausdrücken ähnlicher Art eingebettet sind. Für die Aneignung sprachlichen Wissens ist das Verstehen solcher primär funktionalen Musterbildungen elementar.
Anders als bei Sonntagspredigten haben die katholischen und evangelischen AutorInnen von Kirche in 1live nur 90 Sekunden zur Verfügung, um ihre christliche Botschaft zu vermitteln. Vorliegender Beitrag untersucht, wie die katholischen und evangelischen AutorInnen dies tun. Welche Inhalte erachten sie für relevant? Welche sprachliche Gestaltung wählen sie? Greifen katholische und evangelische AutorInnen zu den gleichen Inhalten und sprachlichen Mitteln oder zeigen sich konfessionelle Präferenzen und Differenzen? Diesen Fragen soll an einem Korpus aus Kirche in 1live-Radiopredigten aus den Jahren 2012 bis 2021 (= 2.755 Texte mit insgesamt 726.570 Token) mit einem quantitativen und qualitativen Methoden-Mix nachgegangen werden. Die Studie wird im Rahmen des DFG-Projekts „Sprache und Konfession 500 Jahre nach der Reformation“ am Germanistischen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster durchgeführt.
What is the subject of German linguistics? This seemingly simple question has no obvious answer. In the ZGL’s first issue, the editors required contributions to cover the whole of the German language and to be theoretically sound but application-orientated, whereas the current ZGL-homepage defines the German language of present and history in all its differentiations as its subject matter.
Looking through the fifty volumes of ZGL, three relationships can be identified as presumably enlightening the role of language, in particular the German language: language and mind; language and language use; language and culture. Though of a different systematic type, language and data should be added as an increasingly important pairing for conceptualizing language. On this basis, I also discuss the position of linguistic studies of the German language, mirrored in the ZGL-volumes, between social, cultural and natural sciences, as well as the corresponding epistemic approaches – like explaining vs. understanding.
Zum Verschmelzungsverhalten von definitem Artikel und Präposition in der Schriftsprache des Deutschen liegen bereits diverse Erkenntnisse vor, wohingegen die Kenntnislage für die gesprochene Sprache noch unzureichend ist. Die vorliegende Untersuchung widmet sich diesem Desiderat und analysiert Präposition-Artikel-Kombinationen anhand von Daten aus FOLK, um die linguistische Beschreibung dieser Struktur voranzutreiben. In der durchgeführten Korpusanalyse werden die Auftretenshäufigkeiten synthetischer und analytischer Präposition-Artikel-Kombinationen verglichen und Gebrauchsbesonderheiten auf syntaktisch-lexikalischer und pragmatischer Ebene herausgearbeitet.
In diesem Beitrag werden Ergebnisse einer Studie präsentiert, die im Rahmen meines Habilitationsprojektes zu Somatismen des Deutschen mit der Konstituente Hand durchgeführt wurde. Das Projekt insgesamt ist korpusbasiert, qualitativ orientiert und verfolgt im Kern semantische Interessen. Empirische Grundlage für die Studien ist das Schriftspracharchiv W des IDS (Institut für Deutsche Sprache). Ziel der insgesamt über 20 Projektstudien ist jeweils die korpusbasierte Beschreibung der Bedeutungsentfaltung phraseologischer Einheiten in der Verwendungsbreite und nicht die Reduktion auf die Übersetzung einer als eine Bedeutung oder gar DIE Bedeutung wiedergebenden Paraphrase in formalsprachliche oder formalsymbolische Beschreibungsabstraktionen. In die Breite zu gehen bedeutet, die beschreibungsmäßig häufig verborgenen, aber im konkreten Sprachgebrauch jeweils sich zeigenden semantischen Feinheiten der untersuchten Einheiten ins Zentrum der Analyse zu stellen. Dafür ist es notwendig, die jeweilige Einheit zunächst überhaupt zu identifizieren (über welche Einheit wird geredet) und ihre formseitigen Manifestationen zu erfassen (welche strukturellen Verfestigungen liegen vor). Anschließend werden über die Beschreibung der Kotexte dieser Einheiten in Belegkorpora die an formseitige Ausprägungen gekoppelten Pfade der Bedeutungsentfaltung - ausgehend von einer ermittelten Ausgangsbedeutung - nachgezeichnet. Auf diese Weise können auch Bedeutungsaspekte eingeholt werden, die als bloße Konnotationen oder Modifikationen zu randständig, als Kernbedeutung zu unhandlich und als semantischer Mehrwert zu uneigenständig konzipiert sind. Es handelt sich um wesentliche Bedeutungszüge der untersuchten Einheiten und Aufgabe der Studien ist es, diese Aspekte durch Kopplung an verschiedene formseitige Ausprägungen gebrauchsangemessen erfassen und beschreiben zu können.
Communication of stereotypes in the classroom: biased language use of German and Turkish adolescents
(2014)
Little is known about the linguistic transmission and maintenance of mutual stereotypes in interethnic contexts. This field study, therefore, investigated the linguistic expectancy bias (LEB) and the linguistic intergroup bias (LIB) among German and Turkish adolescents (13 to 20 years) in the school context. The LEB refers to the general phenomenon of describing stereotypes more abstractly. The LIB is the tendency to use language abstraction for in-group protective reasons. Results revealed an unmoderated LEB, whereas the LIB only occurred when foreigners were in the numerical majority, the classroom composition was perceived as a learning disadvantage, or the interethnic conflict frequency was high. These findings provide first evidence for the use of both LEB and LIB in an interethnic classroom setting.
Im Streit um Migration soll der Gebrauch von Disclaimern in erster Linie ein positives Bild des Produzenten liefern oder wenigstens Ansprüche auf die Berechtigung seiner kritischen Stellungnahme erheben, ohne dass der Produzent als Rassist abgestempelt wird. Im vorliegenden Beitrag werden die Ergebnisse einer Fallstudie über den Gebrauch eines solchen Disclaimers in Deutschland und in Italien zusammengefasst, nämlich von „Ich bin kein Rassist, aber“ und seiner italienischen Entsprechung „Non sono razzista, ma“. Es wird gezeigt, (i) wie diese Disclaimer zum Ausdruck ausländerkritischer Stellungnahmen verwendet werden und (ii) wie ihre Verwendung in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird.
This article examines how the most frequent imperative forms of the verb to show in German (zeig mal) and Czech (ukaž) are deployed in object-centred sequences. Specifically, it focuses on smartphone-based showing activities as these were the main sequential environments of show imperatives in the datasets investigated. In both languages, the imperative form does not merely aim to elicit a responsive action from the smartphone holder (such as making the device available) but projects an individual course of action from the requester’s side in the form of an immediate visual inspection of the digital content. This inspection is carried out as part of a joint course of action, allowing the recipient to provide a more detailed response to a prior action. Therefore, this specific imperative form is proven to be cross-linguistically suited to technology-mediated inspection sequences.
Canadian heritage German across three generations: A diary-based study of language shift in action
(2019)
It is well known that migration has an effect on language use and language choice. If the language of origin is maintained after migration, it tends to change in the new contact setting. Often, migrants shift to the new majority language within few generations. The current paper examines a diary corpus containing data from three generations of one German-Canadian family, ranging from 1867 to 1909, and covering the second to fourth generation after immigration. The paper analyzes changes that can be observed between the generations, with respect to the language system as well as to the individuals’ decision on language choice. The data not only offer insight into the dynamics of acquiring a written register of a heritage language, and the eventual shift to the majority language. They also allow us to identify different linguistic profiles of heritage speakers within one community. It is discussed how these profiles can be linked to the individuals’ family backgrounds and how the combination of these backgrounds may have contributed to giving up the heritage language in favor of the majority language.
Dieses Kapitel gibt einen Überblick über Korpora internetbasierter Kommunikation, die als digitale Ressourcen frei zur Verfügung stehen und für eigene linguistische Forschungsarbeiten genutzt werden können. In Abschnitt 1 erläutern wir korpuslinguistische Basiskonzepte, die für die Arbeit mit Korpora internetbasierter Kommunikation benötigt werden, und präzisieren die Sprachgebrauchsdomäne Internetbasierte Kommunikation, die den Gegenstand des hier beschriebenen Ressourcentyps bildet. Abschnitt 2 gibt einen Überblick zu existierenden Korpusressourcen für das Deutsche und stellt ausgewählte Korpora zu weiteren europäischen Sprachen vor. In Abschnitt 3 geben wir abschließend einen kurzen Einblick in aktuelle Forschungsfelder, die sich im Bereich der Korpuslinguistik und Sprachtechnologie in Bezug auf den Aufbau und die Aufbereitung von Korpora internetbasierter Kommunikation stellen.
Der Beitrag lässt sich hinsichtlich seines Gegenstands dem Bereich ,Sprache und Emotion' zuordnen. Seine Fragestellung bezieht sich auf die Kodierung von Gefühlen und auf deontisch markierte Ausdrücke. Datengrundlage sind Texte, die bisher von der Linguistik noch nicht erschlossen wurden. Es sind Berichte von Nationalsozialist*innen, die ihren Weg zur NSDAP schildern, in die sie in der späten Weimarer Republik eintraten. Der Beitrag analysiert diese Texte mit einem quantitativ-qualitativen Ansatz, indem er danach fragt, welche Gefühlsbezeichnungen in den untersuchten Texten verwendet werden und worauf sie referieren. Die Beantwortung dieser Fragen besteht in der Darstellung der lexikalisch-semantischen Kodierung von Gefühlen seitens der positiv und negativ emotionalisierten NS-affinen Mitglieder der Gesellschaft. Er leistet damit einen linguistischen Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Nationalsozialismus.
Genau tritt im aktuellen Sprachgebrauch nicht nur in seiner klassischen Bedeutung als Adjektiv oder Adverb auf, sondern wird auch als Fokus- bzw. Gradpartikel sowie Gesprächspartikel verwendet. Bisherige Beschreibungen haben sich nur in geringem Maße und unter Verwendung heterogener Begriffe mit seinem interaktionalen Gebrauch auseinandergesetzt. In diesem Beitrag werden mit Hilfe eines sequenziellen und multimodalen Ansatzes verschiedene interaktionale Verwendungen von genau in Videoaufnahmen deutscher Alltagsgespräche untersucht. Ausgehend von seiner Funktion als Gradpartikel wird genau sowohl als redebeitragsinterne Bestätigungspartikel in Wortfindungsprozessen als auch als responsive Bestätigungspartikel eingesetzt. Da genau häufig das Ende eines Verstehensprozesses bzw. einer Wissensverhandlung markiert, könnte allgemeiner die Bezeichnung des Intersubjektivitätsmarkers in Erwägung gezogen werden. Aus dem responsiven, bestätigenden Gebrauch heraus entsteht eine stärker sequenzschließende und sequenzstrukturierende Funktion von genau, woraus sich auch der zunehmende Gebrauch dieses Lexems als rein diskursstrukturierende Partikel innerhalb eines Redezugs erklären könnte.