Jahrbuch / Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS)
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2023
Der Beitrag behandelt Schreibvarianten der Gegenwartssprache. Es werden auf der Grundlage von vier Fallgruppen (1. Binnenmajuskel, 2. Kompositaschreibung mit Leerzeichen, 3. Kompositaschreibung mit Bindestrich, 4. genderfokussierende Schreibweisen) zwei Typen von Normvarianz unterschieden – ein politischer und ein unpolitischer. Dabei wird der Frage nachgegangen, ob unpolitische Ad-hoc-Bildungen auf dem Weg der Konventionalisierung sich von als politisch wahrgenommenen Normvarianten unterscheiden. Zur Beschreibung des Phänomens wird der Begriff der elastischen Norm eingeführt, um divergierende Schreibkonventionen im Spannungsfeld von Faktizitätsherstellung und kodifizierter Setzung zu modellieren. Zur soziolinguistischen Unterscheidung von Schreib- und Leseperspektiven werden die Schreibvarianten als drei unterschiedliche Gesten kategorisiert – als unmarkierte Nullgeste, als markierte Nullgeste und als indexikalisierte Signalgeste.
2023
Neographeme wie Genderstern und Doppelpunkt werden zunehmend verwendet, um Personen unabhängig von ihrem Geschlecht einzubeziehen. Der Beitrag beleuchtet diese Sonderzeichen aus semantischer, typographischer und grammatischer Sicht, vergleicht sie mit anderen Typogrammen und diskutiert ihren Morphemstatus. Auch ihre metapragmatische Leistung der sprecherseitigen Verortung kommt in den Blick. In Bezug auf die Rezeption werden aus kognitionslinguistischer Perspektive die Lesbarkeit und die Funktionstüchtigkeit des Sterns betrachtet. Lesenden, die mit der Form vertraut sind, gelingt der Wortzugriff mühelos, und der Genderstern elizitiert inklusive mentale Repräsentationen. Diese Analysen und Befunde sprechen für die grundsätzliche Möglichkeit, Neographeme in die Sprache zu integrieren.
2023
Seit 1996 ist das Amtliche Regelwerk zur deutschen Rechtschreibung (einschließlich Amtlichem Wörterverzeichnis) gültig. Es regelt die Orthografie für Behörden und Schulen in Deutschland sowie in den sechs weiteren Mitgliedsländern des Rats für deutsche Rechtschreibung. Für die Wörterbuchverlage bzw. alle Wörterbuchprojekte gilt es, dieses hoch abstrakte Regelwerk einerseits auf alle Einträge in den A–Z-Teilen der Wörterbücher anzuwenden und andererseits ggf. das Regelwerk selbst zu „übersetzen“ und es damit einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
2023
Anhand der Rückmeldungen auf eine Umfrage unter den Mitgliedern der Organisation EFNIL (European Federation of National Institutions for Language) wird in diesem Artikel erfasst, wie die orthographische Norm in den Staaten Europas etabliert und vermittelt wird. Es wird unter anderem beleuchtet, welche Prinzipien bei der Erstellung der Norm angewandt werden, in welchen Teilen der Gesellschaft die Regeln gelten, wie sie an die Öffentlichkeit vermittelt werden, inwieweit sie eingehalten werden, ob es alternative Normen gibt, und mit welchen Mitteln Veränderungen im Sprachgebrauch erfasst und berücksichtigt werden.
2023
GraphVar ist ein Korpus aus über 1.600 Abiturarbeiten, die zwischen 1917 und 2018 an einem niedersächsischen Gymnasium geschrieben wurden. Das Hauptinteresse beim Aufbau bestand in der Beschreibung graphematischer Variation und ihrer Entwicklung über die Zeit. Leitend war die Frage, was Schreiberinnen und Schreiber eigentlich tatsächlich machen bzw. gemacht haben – und zwar unbeeinflusst von technischen Hilfsmitteln oder Schluss- und Endredaktion, aber unter vergleichbaren Bedingungen. Das Korpus bietet somit ein Fenster auf den unverfälschten Schreibgebrauch von Abiturientinnen und Abiturienten im Laufe der Zeit. Zum jetzigen Zeitpunkt sind 1.618 Arbeiten transkribiert, linguistisch annotiert und über eine ANNIS-Instanz erreichbar (graphvar.unibonn.de, Stand: 8.8.2023). Im Sommer 2022 konnten weitere 1.600 Arbeiten zwischen 1900 und 2021 an einem Gymnasium in Nordrhein-Westfalen digitalisiert werden. Neben schriftlinguistischen Fragestellungen ist das Korpus prinzipiell auch für syntaktische, morphologische und lexikalische Fragestellungen geeignet; auch didaktische Untersuchungen sind möglich, genau wie kulturwissenschaftliche.
2023
Schreiben, ganz besonders das richtige Schreiben, erlernt man in der Institution Schule. Für den Orthographieunterricht gilt, dass mit dem amtlichen Regelwerk die Norm für die Schreibung zur Sicherung der Einheitsschreibung festgelegt ist. Die Schule hat für die Vermittlung von Normen den katechetischen Unterrichtsstil entwickelt: Die Norm ist durch Übernahme und Übungen zu sichern, Diskussionen der Norm erweisen sich vor dem Hintergrund dieser Vorgabe als störend. Von daher erscheint die Orthographie als ein Gegenstandsfeld, das nicht erschlossen und entdeckt, sondern übernommen werden muss. Demgegenüber versucht ein erklärender Unterricht die Systematik der Schreibungen zu erfassen. Hierzu müssen die Formulierungen der Regelmäßigkeiten im amtlichen Regelwerk unter einem didaktischen Blick kritisch beleuchtet und gegebenenfalls reformuliert werden. Dabei spielt die grammatische Rekonstruktion eine besondere Rolle. Der unter Mitwirkung des Rats für deutsche Rechtschreibung entstandene Rechtschreibrahmen (RR) für die Klassen 1–10 in Baden-Württemberg versucht, die Orthographie für die Lehrkräfte systematisch und erklärend darzustellen.
2023
Gemäß Lehrplänen scheint der Rechtschreiberwerb nach der Sekundarstufe I weitgehend abgeschlossen. Aber auch auf der Sekundarstufe II, ja sogar an Universitäten verstoßen die Schreibenden gegen die gültigen Regeln. Dabei können Lernende auf diesen Stufen durch die Auseinandersetzung mit dem System der Orthografie ein besseres Verständnis für die Normen entwickeln. Ein explorativer, konstruktivistischer Ansatz eröffnet neue Perspektiven, orthografische Probleme zu untersuchen und zu verstehen. Es wird gezeigt, wie Regeln durch gezielte Aufträge selbstständig entdeckt werden können und mit welchen Strategien sich das Sprachbewusstsein durch und für die Orthografie vertiefen lässt. Ein solcher explorativer Zugang erweitert das Wissen über Rechtschreibung und fördert die korrekte Verwendung der Schriftsprache.
2023
Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der Rechtschreibung von Maturantinnen und Maturanten in einem österreichischen Deutschmaturatext-Korpus. Es werden Ergebnisse aus einer quantitativen und qualitativen Untersuchung dieses Lernerkorpus präsentiert. Diese haben gezeigt, dass die Rechtschreibleistungen in den untersuchten österreichischen Maturaarbeiten besser sind als in der (medialen) Öffentlichkeit angenommen, dabei jedoch bestimmte Fehlerschwerpunkte hervorstechen. Signifikante Unterschiede in Hinblick auf Leistungen bei Orthographie und Zeichensetzung bestehen zudem zwischen stift- und computergeschriebenen Arbeiten.
2023
Orthographie
(2024)
Ausgehend von den Ergebnissen des letzten IQB-Bildungstrends (2021) zu den orthographischen Kompetenzen von Grundschüler:innen fragt der Beitrag nach Stellenwert und Funktion der Orthographie vor dem Hintergrund der Anforderungen, die an die sprachliche Bildung von Schüler:innen gestellt sind. Orthographie und orthographische Kompetenzen werden funktional im Bereich des Schreibens und einer zu entwickelnden Schreibkompetenz verortet. Wichtig ist dabei der Blick auf die Schreibflüssigkeit. Sie ist grundlegend für die anforderungsreichen Prozesse des Textschreibens. Ausgehend von Befunden neuerer Studien betrachten wir das Verhältnis von Orthographie und Schreiben und daraus resultierende Anforderungen an den schulischen (Recht-)Schreiberwerb.
2023
Das Rechtschreiben ist digital automatisierbar. Ist der Orthographieerwerb dann noch notwendig für den Aufbau einer bildungssprachlichen literalen Kompetenz? Der Beitrag fragt nach den Zusammenhängen zwischen der Orthographie und den sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten, die für das Schreiben und Lesen von Texten gebraucht werden. Argumente und Forschungsergebnisse zu drei konkurrierenden Hypothesen zu diesem Zusammenhang werden vorgestellt und diskutiert: Entlastungsthese, Bewusstheitsthese, Literalisierungsthese. Auf der Grundlage der Literalisierungsthese wertet der Beitrag den Orthographieerwerb als nicht substituierbare Komponente einer Sprachkompetenz, die den Umgang mit Texten ermöglicht.