Sprachgeschichte
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Betrachtet man "Verfallserscheinungen" des Verbalsystems wie Übergänge stark > schwach, so zeigt sich, dass hier weder Rezenz noch Verfall zu konstatieren ist. Mit diachroner und analytischer Tiefe offenbart sich ein gestaffelter, systematischer Komplexitätsabbau, der seine Hochphase im Frühneuhochdeutschen hat und sich schlecht mit der Passivität und Chaos implizierenden Verfallsmetapher verträgt: Reorganisation statt Dekadenz. Entwicklungen wie der präteritale Numerusausgleich ('ich sang' – 'wir sungen' > 'ich sang' – 'wir sangen') oder die Herausbildung der vereinfachten Ablautalternanz X–o–o sind nie nur Komplexitätsreduktion, sondern immer auch Systematisierung; sie bremsen Verfall. Dabei ist der Gewinn an Systematik i.d.R. nicht Normautoritäten geschuldet, sondern ihm liegen sprachsystematische, kognitive und frequenzielle Faktoren zugrunde.
Aus der Perspektive der Sprachbenutzerinnen ist der Genitiv vom Sprachverfall bedroht. Jedoch lässt sich in der Geschichte des Deutschen kein geradliniger Abbau nachweisen. Die kurze Genitivendung -s (aus -es) setzte sich zwar schon im Frühneuhochdeutschen als die häufigere Variante durch, im weiteren Sprachwandel entwickelte sich dann aber eine komplex gesteuerte Variation beider Endungen. Mit dem Abbau des verbalen und attributiven Genitivs gehen zwar wichtige Funktionsbereiche verloren, doch zeichnet sich in der neuesten Sprachgeschichte ein unerwarteter Aufbau des Genitivs als Präpositionalkasus ab. In diesem Beitrag wird dafür plädiert, dass die formale und funktionale Entwicklung des Genitivs stark durch sprachliche Unsicherheit beeinflusst wurde und wird, die eine Reaktion auf bestehende Varianz darstellt. Es wird dafür argumentiert, dass die stilistische Aufwertung der langen Genitivform und des Genitivs gegenüber dem Dativ den Sprach-wandel aufhält bzw. sogar in eine andere Richtung lenkt.
In der emotional geführten Sprachverfallsdebatte wird besonders die Apostrophsetzung vor dem Genitiv- und dem Plural-t, vulgo Deppen-Apostroph, kritisiert und als vermeintliche Entlehnung aus dem Englischen stigmatisiert. Erst seit kurzem liegen mit Scherer (2010, 2013) korpusbasierte Untersuchungen vor, die eine angemessene Interpretation dieses graphematischen Wandels erlauben, der weitaus älter ist als gemeinhin vermutet. Generell erweist sich, dass viele als neu und bedrohlich empfundene Sprachveränderungen bereits vor über hundert Jahren meist ebenso emotional gegeißelt wurden. Der Beitrag befasst sich hauptsächlich mit der diachronen Entwicklung des phonographischen Apostrophs zu einem morphographischen, dessen Funktion nun nicht mehr darin besteht, nicht-artikulierte Laute zu markieren, sondern morphologische Grenzen (Uschis, Joseph K.’s, CD’s). Deutlich wird, dass der Apostroph der Gestaltschonung komplexer Basen dient, deren Gros aus Eigennamen besteht. Anschließend wird in einem kürzeren Teil nach der Entstehung und Beschaffenheit dieser s-Flexive selbst gefragt. Diese sind ihrerseits Ergebnis flexionsmorphologischer Umstrukturierungen und garantieren maximale Konstanthaltung des Wortkörpers. Abschließend wird noch die neueste Entwicklung gestreift, die in der Deflexion ebendieser s-Flexive besteht und die sich wieder am deutlichsten bei den Eigennamen manifestiert. Diese haben als Quelle all dieser Entwicklungen zu gelten (vgl. des Irak, des Helmut Kohl, auch des Perfekt, des LKW, des Gegenüber). Insgesamt ist festzustellen: Nicht nur die Apostrophsetzung vor s-Flexiven, sondern auch die s-Flexive selbst sowie ihr derzeitiger Abbau dienen ein und derselben Funktion: Der Schonung durch Konstanthaltung markierter Wortkörper, worunter mehrheitlich Eigennamen fallen, daneben auch Fremdwörter, Kurzwörter und Konversionen. Damit sind es die Eigennamen, die Ausgangspunkt und Ursache tiefgreifenden flexionsmorphologischen und graphematischen Wandels bilden.
Die Vorstellung eines Verfalls der deutschen Sprache lässt sich mindestens bis in das 16. Jahrhundert zurückverfolgen, als Schulmeister sich beschwert haben, dass ihre Schüler wegen der um sich greifenden Variation nicht mehr wüssten, was korrektes Deutsch sei. Ähnliche Vorstellungen treten etwa gleichzeitig in anderen europäischen Ländern auf und können vielleicht mit dem langsamen Ersatz des Lateins als vorherrschender Sprache des Schrifttums und der Bildung in Zusammenhang gebracht werden. Sie beruhen auf verbreiteten irrtümlichen Annahmen über das Wesen der Sprache, insbesondere dass die zugrundeliegende Form jeder Sprache homogen und unwandelbar sei und seit sehr langem — eventuell seit Babel — so existiert habe. Diese Annahmen muss man mit Watts (2011) als Mythen werten, sie sind jedoch sehr beharrlich, und in der frühen Neuzeit dienten sie als Grundlage für die Erschaffung der heutigen deutschen Standardsprache, die aus diesem Grunde genauso wie alle anderen europäischen Kultur- oder Standardsprachen eigentlich als ein rezentes kulturelles Artefakt anzusehen ist.
In diesem Beitrag wird anhand von Material aus einem neuen elektronischen Korpus der deutschen Sprache des 17. und 18. Jahrhunderts gezeigt, wie die Standardsprache entstanden ist als Ergebnis dieser Annahmen sowie aus der Vorstellung, nur auf diese Weise sei die deutsche Sprache vor dem endgültigen Verfall zu retten. Im Laufe dieses Vorgangs wurde wo möglich jede Variation aus der Schriftsprache eliminiert und dabei auch sprachliche Varianten stigmatisiert, die heute noch häufig sind, auch wenn sie als „substandard“, „nicht korrekt“ oder „nicht hochsprachlich“ gelten. Auch wurden Regeln des „guten“ hochdeutschen Sprachgebrauchs festgelegt (oder erdacht), die Muttersprachler im spontanen Gespräch immer noch kaum beachten. Aber die Sprachgeschichte lehrt, dass Variation und Wandel nicht zum Verfall der Sprache führen, sondern die dynamische Flexibilität gewährleisten, die für die Sprache nötig ist, wenn sie allen sozial und kulturell erforderlichen Bedürfnissen der menschlichen Kommunikation gerecht werden muss.
Die Normierung der deutschen Standardaussprache geht in ihren Ursprüngen auf die 1898 durch die Siebs-Kommission beschlossenen Regelungen für die deutsche Bühnenaussprache zurück. Seit 1964 bildet der Nachrichtensprecher bei der Ausübung seines Berufs die Grundlage für die gegenwärtigen deutschen Aussprachekodizes. Diese eingeschränkte empirische Basis zusammen mit einem primär präskriptiven Anspruch der Kodifikatoren führt dazu, dass auch das aktuellste Aussprachewörterbuch des Deutschen (DAW) in vielen Fällen den tatsächlichen Standardsprachgebrauch in Deutschland nur unzureichend repräsentiert. Dies wird im vorliegenden Beitrag durch den Vergleich mit Sprachdaten aus dem Korpus „Deutsch heute“, das Lese- und Spontansprache v.a. von Oberstufenschülern am Gymnasium aus dem ganzen deutschen Sprachraum enthält, anhand von acht unterschiedlichen sprachlichen Phänomenen gezeigt. Der Beitrag schließt mit einem Plädoyer für realitätsnähere Kodifikationen, die sich am Sprachgebrauch der „educated speaker“ orientieren (wie es v.a. im englischsprachigen Raum der Fall ist), weil sie der aktuellen Sprachsituation im Deutschen weit besser Rechnung tragen als die derzeit existierenden Kodizes.