Angewandte Linguistik
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Der nationalsozialistische Interaktions- und Kommunikationsraum war mithin bevölkert von kommunikativ konstruierten Sozialfiguren. Hierbei gab es sowohl positiv Konnotierte (z. B. Volksgenosse, Nationalsozialist, Parteigenosse, SA-Mann, Alter Kämpfer) als auch negativ Konnotierte (z. B. Asozialer, Judenfreund, Schwarzer, Roter, Freimaurer). Diese stereotypisierten Sozialfiguren, an die wiederum vielfältige positive wie negative Attribuierungen geknüpft waren, stellten gleichsam Diskurspositionen dar, die anderen zugewiesen wurden oder eingenommen werden konnten – sofern den individuellen Voraussetzungen nach möglich – und die mit unterschiedlichen Graden der In- bzw. Exklusion einhergingen. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf zwei dieser Figuren, die spezifischer als Grenzfiguren begriffen werden können: Meckerer und Märzgefallene. Es wird untersucht, wie diese beiden Grenzfiguren sprachlich konstruiert, in welchen Kontexten und Kommunikationssituationen sie angeeignet und verwendet wurden. In beiden Fällen wird der Fokus dabei über den wörtlichen Ausdruck hinaus auf zeitgenössisch ähnliche oder eng verwandte Bezeichnungen ausgeweitet.
Einleitung
(2022)
This paper presents a compositional annotation scheme to capture the clusivity properties of personal pronouns in context, that is their ability to construct and manage in-groups and out-groups by including/excluding the audience and/or non-speech act participants in reference to groups that also include the speaker. We apply and test our schema on pronoun instances in speeches taken from the German parliament. The speeches cover a time period from 2017-2021 and comprise manual annotations for 3,126 sentences. We achieve high inter-annotator agreement for our new schema, with a Cohen’s κ in the range of 89.7-93.2 and a percentage agreement of > 96%. Our exploratory analysis of in/exclusive pronoun use in the parliamentary setting provides some face validity for our new schema. Finally, we present baseline experiments for automatically predicting clusivity in political debates, with promising results for many referential constellations, yielding an overall 84.9% micro F1 for all pronouns.
Esipuhe/Preface
(2020)
The theme of the AFinLA 2020 Yearbook Methodological turns in applied language studies is discussed in this introductory article from three interrelated perspectives, variously addressed in the three plenary presentations at the AFinLA Autumn Symposium 2019 as well as in the thirteen contributions to the yearbook. In the first set of articles presented, the authors examine the role and impact of technological development on the study of multimodal digital and non-digital contexts and discourses and ensuing new methods. The second set of studies in the yearbook revisits issues of language proficiency, critically discussing relevant concepts and approaches. The third set of articles explores participation and participatory research approaches, reflecting on the roles of the researcher and the researched community.
Adieu, Fremdwort!
(1991)
Dieses Kapitel lotet Möglichkeiten und Methoden aus, digitale Diskursanalysen nationalsozialistischer Quellentexte durchzuführen. Digitale Technologie wird dabei als heuristisches Werkzeug betrachtet, mit dem der Sprachgebrauch während des Nationalsozialismus im Rahmen größerer Quellenkorpora untersucht werden kann. In einem theoretischen Abschnitt wird grundsätzlich dafür plädiert, während des Analyseprozesses hermeneutisches Sinnverstehen mit breitflächigen korpusbasierten Abfragen zu kombinieren. Verdeutlicht wird diese Herangehensweise an zwei empirischen Beispielen: Anhand eines Korpus von Hitler- und Goebbels-Reden wird dem Auftauchen und der diskursiven Ausgestaltung des nationalsozialistischen Konzepts „Lebensraum“ nachgespürt. Schritt für Schritt wird offengelegt, welche Analysewege durch das Abfragen von Schlüsseltexten, Keywords, Konkordanzen und Kollokationen verfolgt werden können. Das zweite Beispiel zeigt anhand von Eingaben, die aus der Bevölkerung an Staats- und Parteiinstanzen gerichtet wurden, wie solche Quellen mithilfe eines digitalen Tools manuell annotiert werden können, um sie danach auf Musterhaftigkeiten im Sprachgebrauch hin auswerten zu können.
Based on conference reports and minutes, archive material and official documents, the article seeks to explore the way in which the promotion of women’s sports and of women in leadership positions became an important part of the sport policy of two major organizations involved in European sport cooperation: the Council of Europe and the European Sport Conference. During first and modest discussions in the 1960s and 1970s it constituted a rather paternalistic project. Also, it was based on the assumption of an essential difference between men and women concerning the need for participation in sport. This only changed since the beginning of the 1980s when women took the course in their own hands, challenged the underlying assumptions and created new networks of cooperation.
Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, die bisherigen Forschungen zur Sprachgeschichte des Nationalsozialismus im Lichte ihres Erkenntnispotenzials für gegenwärtige historiografische Fragestellungen zu diskutieren. In einem ersten Schritt wird die Forschungsgeschichte zur Sprache des beziehungsweise im Nationalsozialismus von der frühen Nachkriegszeit bis in die 1980er-Jahre skizziert. Deutlich wird hier vor allem, dass in dieser Phase zwar wichtige Arbeiten entstanden sind, jedoch methodische und theoretische Begrenzungen zahlreiche blinde Flecken bestehen ließen. In einem zweiten Schritt wird dargelegt, mit welchen Erkenntnisinteressen und Instrumentarien die jüngere Forschung sich auf diese blinden Flecken konzentriert und welche Ergebnisse sie zutage gefördert hat. Dabei sollen vor allem diejenigen Aspekte benannt werden, die nach Ansicht des Verfassers bei einer noch zu schreibenden Sprach- und Kommunikationsgeschichte des Nationalsozialismus zu beachten sind. Es handelt sich konkret um eine Ausweitung der Perspektive in Richtung unterschiedlicher Kommunikationssituationen und heterogener Akteurskonstellationen, um Sprachgebräuche unter den Diskursbedingungen des Nationalsozialismus angemessen beschreiben zu können.
Der vorliegende Beitrag untersucht aus interaktionslinguistischer Perspektive, wie Prinzipien deliberativer Demokratie in den Schlichtungsgesprächen zu Stuttgart 21 umgesetzt wurden. Wir konzentrieren uns dabei auf Interventionen, in denen der Schlichter Heiner Geißler die Wahrung von Verständlichkeit und Interessen der Bürger/-innen anmahnt, sowie Verletzungen der Wahrheitsnorm sanktioniert. Wir zeigen, wie Bürger/-innen sowie Normen und Werte rhetorisch als Ressource für das Einhalten von Verfahrensregeln genutzt werden, aber auch den Interessen des Schlichters selbst dienen. Dabei werden die Verfahrenswerte nicht immer einheitlich priorisiert. Die zugrunde liegende politische Diskussion wird zu Gunsten der Durchsetzung des Konstrukts ‚Faktenschlichtung‘ ausgeklammert.
Argumentieren im Widerstand
(2022)
Widerstand gegen das NS-Regime war eine lebensbedrohliche, kräftezehrende und letztlich einsame Herausforderung für alle widerständischen Akteur/-innen. Abgelehnt von einer Mehrheit der NS-Volksgemeinschaft konnten Widerständler/-innen weder darauf bauen, dass ihre Haltungen und Handlungen verstanden noch als Vorbild wahrgenommen wurden. Zur Unterstützung und zum Verständlich-Machen ihrer Positionen bedurfte es kommunikativer Strategien der Überzeugung. Dahingehend ist es konsequent, dass dem Argumentieren in den verschiedenen widerständischen Textkommunikaten eine zentrale Rolle zukam. Anhand ausgewählter Texte des Widerstands ist es Ziel dieses Aufsatzes, das Argumentieren als widerständische kommunikative Praktik in ihrer Strukturiertheit sowie Komplexität darzustellen und hinsichtlich ihrer Akteurs-, Zeit- und Textsortengebundenheit zu reflektieren.
Der Beitrag untersucht korpuspragmatisch am Beispiel der Präpositionalphrasen mit gegen Varianten der Gegenwehr in der Zeit des Nationalsozialismus. Im Vordergrund stehen Flugblätter, Programmschriften und Zeitungsartikel, die unter den Bedingungen von Verfolgung, Exil oder Desertation kollaborativ verfasst wurden. Eine Spur zu diesen Dokumenten, die die Heterogenität und die Konfliktlinien des Widerstands auf Textebene widerspiegeln, legt die Korpusauswertung mithilfe der soziopragmatischen Annotationen aus dem Paderborner HetWik-Projekt. Methodisch werden gegen-Phrasen anhand ihrer Füllerprofile und Kollokatoren einzelnen Handlungsmustern zugeordnet. Im Ergebnis zeigt sich der Solidarisierungseffekt von situativ verfestigten Kollokationen sowie eine (selbst)kritische Reflexion von NS-Feindschaften.
In diesem Beitrag steht die sprachliche Konstitution von Eigengruppen und mit diesen assoziierten Partnergruppen im Vordergrund, deren zentrale Sprachgebrauchsmuster gezeigt werden. Der Beitrag basiert auf Auswertungen der im Projekt „Heterogene Widerkulturen: Sprachliche Praktiken des Sich-Widersetzens von 1933 bis 1945“ erstellten manuellen, soziopragmatisch orientierten Annotationen von 140 Widerstandstexten sowie auf korpuslinguistischen Auswertungen des Gesamtkorpus (554 Texte). Es soll gezeigt werden, dass eine linguistische Auseinandersetzung mit dem Gegenstand Ergebnisse der Widerstandsgeschichte produktiv vertiefen kann. So lässt allein schon die Betrachtung des pronominalen Referierens Schlüsse auf die sozialkulturelle Bindung der Widerstandsakteur/-innen zu.
Ausgehend von spezifischen historischen Diskursbedingungen und anknüpfend an Ansätze der Positionierungstheorie untersucht der Beitrag sprachliche Praktiken politischer Positionierung von Akteuren der integrierten Gesellschaft während des Nationalsozialismus. Am Beispiel einer Eingabe eines Katholiken sowie eines abgehörten Zellengesprächs zweier Wehrmachtssoldaten wird diskursanalytisch herausgearbeitet, wie verschiedene Identitätsdilemmata sprachlich verhandelt wurden und wie die Akteure dabei auf vorliegende politische Positionierungsangebote zurückgriffen, zugleich aber versuchten, ihre Positionen individuell auszugestalten.
Der folgende Beitrag vollzieht, nach Akteuren und Texten bzw. Kommunikationsformen unterschieden, Bezugnahmen auf die Olympischen Sommerspiele 1936 als eine multiperspektivische Konstruktionen nach. Methodisch werden – für die Perspektive der NS-Akteure – die Zugänge der Raumlinguistik genutzt und entsprechende Referenzen als Verräumlichungs-Akte beschrieben. Unter der Voraussetzung, dass die offizielle Berichterstattung der Olympia-Zeitung die Funktion hatte, einen geistig-kulturellen Zusammenhang zwischen der klassischen Antike und der nationalsozialistischen Gegenwart herzustellen, werden exemplarisch spezifische Raum- und Zeitkonstruktionen analysiert. Mit der Behauptung der Identität der klassischen Antike mit dem Nationalsozialismus wird Rechtfertigungspotenzial geschaffen; unter dem Schutz des Prestiges dieser Kulturepoche und ihrer Hervorbringungen hat man Handlungsspielraum. Für die Perspektive von Dissidenten und Ausgeschlossenen werden Bezugnahmen zeitlinguistisch im Sinn von Chronoferenzen dargestellt. Diese konzipieren die Spiele als ein eine transitorische Realität schaffendes Zeitereignis, mit einem markierten Beginn und Ende, vor allem aber mit temporären Phänomenen, i. e. der auf die Spiele zeitlich begrenzten Aussetzung von Exklusionsmaßnahmen. Im Zeichen von Täuschung und Entlarvung werden die kommunikativen Akte akteursspezifisch zusammengefasst.
Forschungskontext
(2022)
Die folgenden Beiträge von Heidrun Kämper, Britt-Marie Schuster, Nicole Wilk, Friedrich Markewitz, Mark Dang-Anh und Stefan Scholl stehen im Kontext zweier von der DFG geförderter Forschungsprojekte, die unter dem Gesichtspunkt einer sprachlichen Sozialgeschichte 1933 bis 1945 – als Tandemprojekte – seit 2018 von Britt-Marie Schuster, Nicole Wilk und Friedrich Markewitz in Paderborn und von Mark Dang-Anh, Stefan Scholl und Heidrun Kämper am IDS realisiert werden. Es sind jeweils Dreijahresprojekte, die 2021 abgeschlossen werden. Zur Einordnung der genannten Beiträge soll zuvor kurz in die Projektkonzeption eingeführt und ein Überblick über die Forschungsgegenstände gegeben werden.
Ist von empörenden Vergleichen die Rede, denken wir zuerst an Nazi- und Holocaust-Vergleiche. Diese Vergleiche und die Reaktionen darauf unterliegen sprachlichen Mustern und verfolgen politische Strategien, deren typisierende Analyse – anhand von Beispielen aus dem deutschen und nicht-deutschen Raum – im Zentrum des Aufsatzes steht. Das Frageinteresse zielt darüber hinaus auf eine Geschichte des empörenden Vergleichens in der historischen Langzeitperspektive. Empörende Vergleiche können formal als Gleichsetzungen, Komparationen oder als hierarchisierende Unterscheidungen auftreten. Ihre Hauptfunktionen sind das Diffamieren politischer Gegner, das Erheischen von Anerkennung, vor allem als Opfer erlittenen Unrechts, sowie die provozierende Verletzung von Sprachnormen zwecks Ausweitung der Grenzen des Sagbaren.
Der Beitrag beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen politischer Argumentation und politischem System in der Schweiz. Vor allem mit Verweisen auf Ergebnisse aus den Sozialwissenschaften wird zunächst plausibilisiert, dass es ein anhaltendes internationales Interesse an direkter Demokratie gibt und dass die (halb)direkte Demokratie in der Schweiz insgesamt gut funktioniert. Anschließend argumentiert der Beitrag dafür, dass die politische Kommunikation und im Besonderen die politische Argumentation in der Schweiz nicht nur von der (halb)direkten Demokratie geprägt sind, sondern auch zu deren Funktionieren beitragen. Zu diesem Zweck werden vorrangig Ergebnisse verschiedener Studien aus dem SNF-Forschungsprojekt „Politisches Argumentieren in der Schweiz“ (2018–2021) aufeinander bezogen. Zusammengenommen deuten die Ergebnisse darauf hin, dass die politische Kommunikation und Argumentation für die erfolgreiche Existenz direktdemokratischer Instrumente eine nicht zu unterschätzende Bedeutung haben.
Kommunikation zwischen Regierenden und Regierten ist eine notwendige Bedingung für repräsentative Demokratien. Bürgerinnen und Bürger müssen wissen, wofür Parteien und Kandidaten stehen. Gleichzeitig müssen diese über Interessen und Bedürfnisse der Bevölkerung informiert sein. Kurzum: ohne Kommunikation funktioniert repräsentative Demokratie nicht. Politik und politische Kommunikation sind für die allermeisten von uns aber nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar erfahrbar – hier spielen die Medien als „Fenster zur Welt“ eine zentrale Rolle. In aller Kürze werden wir uns der Bedeutung der medialen Veränderung (Radio, Fernsehen, Internet, soziale Medien) für die politische Kommunikation nähern. Hierum geht es in einem ersten Teil meines Beitrags. Daran anschließend, im zweiten Teil: Streit! Die politische Auseinandersetzung als Herzstück der Demokratie und besondere Form der Kommunikation. Hart in der Sache, anständig im Ton um die beste politische Lösung ringen – so der Idealfall. Doch wo findet diese Auseinandersetzung statt? Im dritten Teil des Beitrags wird das Konzept der Öffentlichkeit genauer beleuchtet. Vor wenigen Jahrzehnten unterhielt man sich über dieselbe Sendung, die man am Abend davor gesehen hatte – das „rituelle Zusammensein der Nation“. Heute leben wir in geteilten und getrennten Öffentlichkeiten. Filterbubbles, Echokammern. Welche Auswirkungen lassen sich daraus für die demokratische Debatte und die politische Kommunikation ableiten? Im vierten Abschnitt widmet sich der Beitrag großen Fragen, ohne abschließende Antworten zu liefern: Braucht es Regulierung? Kann Kommunikation überhaupt reguliert werden? Und von wem?
In dem einleitenden Beitrag wird ein Überblick über die Erforschung politischer Sprache von der Nachkriegszeit an gegeben. Im Zusammenhang mit frühen Publikationen wird auf die Diskussion anfänglicher methodischer Desiderata eingegangen, die prägend für die Geschichte der Politolinguistik war. Nach einer Klärung des Gegenstandsbereichs der Politolinguistik wird die Entwicklung dieser Forschungsrichtung dargestellt, die sich als eine Bewegung von der Analyse kleinerer Einheiten (Ideologiewortschatz) hin zu größeren Einheiten (politische Kampagnen/Diskurse) darstellen lässt. Die Reflexion auf das Selbstverständnis der Politolinguistik, möglichst deskriptiv vorzugehen und von der Bewertung der analysierten Gegenstände abzusehen, scheint dabei immer wieder auf.
Mit der Jahrestagung 2021 lenkte das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS) den Blick auf die Wechselbeziehung zwischen Sprachgebrauch bzw. sprachlichem Handeln und der gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit. Damit ist der Gegenstandsbereich der Tagung umrissen: Es geht um die politische und gesellschaftliche Dimension von Sprache. Das Institut entspricht mit diesem Tagungsthema in besonderer Weise seiner Aufgabe, die Sprache in der Gegenwart und in ihrer jüngeren Geschichte zu untersuchen.
Vorwort
(2022)
Sprache ist politisch, und politisches Handeln vollzieht sich nie ohne Sprache. Sprachgebrauch bzw. sprachliches Handeln stehen dabei in einer unauflösbaren Wechselbeziehung mit der gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit. Diese Wechselbeziehung aus verschiedenen Perspektiven zu analysieren, ist das Ziel der in diesem Band versammelten Beiträge, mit denen die Jahrestagung 2021 des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache dokumentiert wird. Dabei geht es nicht zuletzt um die gesellschaftliche Verantwortung, die die Sprachwissenschaft – wie alle Sozialwissenschaften – hat. Diese Verantwortung besteht darin zu zeigen, welche Rolle und Funktion Sprache im gesellschaftlich-politischen Kontext zukommt. Mit diesem Anspruch bekommen Themen aus dem Bereich Sprache, Politik und Gesellschaft sowohl gegenwarts- als auch vergangenheitsbezogen eine neue Relevanz. Der Zugang ist dabei dezidiert transdisziplinär, neben der Linguistik sind insbesondere auch die Politologie und die Geschichtswissenschaft beteiligt.
Das Buch präsentiert die ersten Arbeitsergebnisse des wissenschaftlichen Netzwerks >Linguistik und Medizin< Patho- und Salutodiskurse im Spannungsfeld von objektivierter Diagnose, interaktiver Vermittlung und medialer Konstitution, gegründet 2017 und finanziert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Aus unterschiedlichen linguistischen, medizinischen, historischen und soziologischen Perspektiven werden Prozesse der Wissenskonstitution, -aushandlung und des -transfers in Bezug auf Gesundheit und (psychische wie somatische) Krankheiten thematisiert. Mit Daten und Methoden der Gesprächs-, Korpus- und Diskurslinguistik, der Medizin und der Soziologie werden aktuelle und gesellschaftsrelevante Fragestellungen in der Arzt-Patienten-Kommunikation, den ö̈ffentlichen massenmedialen Diskursen und in der Fachkommunikation in einem interdisziplinären Dialog bearbeitet. Im Fokus stehen einzelne Krankheitsbilder und deren semiotische Konstruktion wie Schizophrenie, HIV/AIDS, Alzheimer, Depression; mannigfaltige interaktive Praktiken z.B. der Empathiebekundung, der Aufklärung, der Emotionalisierung in Arzt-Patienten-Gesprächen; Prozesse der gemeinsamen Wissensaushandlung in Online-Foren; fachliche Konstruktionen von Vorstellungen zu Normalität und Abweichung.
Argumentative Stützungen von diskursiven Geltungsansprüchen spielen im Rahmen von Diskursanalysen zu gesellschaftlich verhandelten Themen, wie ökologische Nachhaltigkeit, eine wichtige Rolle. Im vorliegenden Beitrag, der einen zentralen Aspekt der großangelegten diachronen Studie von Schwegler (2018) fokussiert vorstellt, wird ein diskurslinguistischer Ansatz zur Erfassung von Argumentationen und Werteverständnissen dargelegt, der Argumentgruppen inhaltlich bzw. thematisch unterscheidet – d. h. nicht mikro- oder makroformal analysiert – und gleichzeitig mittels eines framesemantischen Ansatzes über eine Argumentationsanalyse auf mittlerer Abstraktionsebene hinausgeht. So kann auch für vermeintlich konsensuelle Bereiche aufgedeckt werden, wie Konflikte latent innerhalb zentraler argumentativer Begriffe liegen. Identifizierte Argumentgruppen, wie hier beispielhaft Gerechtigkeit, sind dabei nicht genuin diskursspezifisch, spezifisch sind vielmehr die Kombinationen der Werteverständnisse, d. h. die Arten von Gerechtigkeit, an die argumentativ appelliert wird. Im deutschsprachigen Nachhaltigkeitskontext sind dies u. a. Fairness, Gleichheit (bzgl. Umweltgerechtigkeit oder Verfahrensgerechtigkeit), globale Gleichberechtigung, kosmische Gerechtigkeit (Schicksal), Reziprozität/Tauschgerechtigkeit sowie Gewohnheitsrecht oder Utilitarismus, die in kontrastiver Verwendung Konfliktpotenzial bergen.
Nachhaltigkeit und nachhaltige Entwicklung gehören zu den drängenden globalen Zielen unserer Zeit. Als interdisziplinäres und vielschichtiges Thema ist Nachhaltigkeit auch für die angewandte Linguistik hochrelevant – sei es mit Blick auf die diskursive Debattenkultur, neue mediale Formen der Partizipation oder Formen der Wissenskommunikation, wie die international entstandene Nachhaltigkeitskommunikation in Wirtschaft und Politik.
Der vorliegende Band geht aus der Arbeit des DFG-Netzwerks >Linguistik und Medizin< – Patho- und Saluto-Diskurse im Spannungsfeld von objektivierter Diagnose, interaktiver Vermittlung und medialer Konstitution (vgl. Iakushevich, Ilg & Schnedermann 2017) hervor, das Forscherinnen und Forscher aus Deutschland, der Schweiz, Österreich und Ungarn vereint (www.linguistik-medizin.net). Das Netzwerk wurde 2017 gegründet, um die Forschungstätigkeiten der verschiedenen linguistischen Disziplinen, die an den Verbindungslinien von „Sprache – Wissen – Medizin“ arbeiten, zu bündeln und die interdisziplinäre Anschlussfähigkeit zwischen linguistischen und medizinischen, psychiatrischen und salutogenetischen Forschungsbereichen auf- und auszubauen.
Im Beitrag werden drei sprachwissenschaftliche Zugänge zu Diagnosen vorgestellt: In der Gesprächsanalyse wird die Diagnoseherstellung in der mündlichen Arzt-Patienten-Interaktion beleuchtet. Diagnosen entstehen kollaborativ,indem Gesprächsphasen durchlaufen und charakteristische Handlungen in bestimmten Äußerungsformaten vollzogen werden. Im Blickpunkt der Text- und Kommunikationsgeschichte steht hingegen das schriftsprachliche Handeln. Das Herstellen einer Diagnose erfordert hier die nachträgliche Bearbeitung vorgängiger mündlicher Interaktionen gemäß einer etablierten Textsorte: dem Erhebungsbogen. Von diesen Formen der Diagnoseherstellung unterscheidet sich, wie ein diskurslinguistischer Zugriff zeigt, die massenmediale Faktizitätsherstellung in Diskursen wie dem Impfdiskurs, die auch für ein medizinisches Laienpublikum relevant sind. Mit dem Beitrag soll nicht nur deutlich gemacht werden, in welchengem Zusammenhang mündliche Interaktion und schriftliche Fixierung stehen, sondern auch betont werden, dass das massenmedial vermittelte medizinische Lai*innen in relative Expert*innen verwandeln kann.
Die Macht des Definierens. Eine diskurslinguistische Typologie am Beispiel des Burnout-Phänomens
(2021)
Wo verläuft die Grenze zwischen psychischer Gesundheit und Krankheit, und wie wird diese im öffentlichen und fachlichen Diskurs ausgehandelt und definiert? Die vorliegende Arbeit untersucht am Beispiel des Burnout-Diskurses, mit welchen Sprachgebrauchsformen und kommunikativen Praktiken in Fach-, Medien- und Vermittlungstexten ein spezifikationsbedürftiges Phänomen des Bereichs psychischer Gesundheit und Krankheit definiert wird. Im Mittelpunkt der Analyse steht die Macht diskursiver Praktiken des Definierens und die These, dass sich diese Praktiken nicht nur punktuell in bewussten Definitionshandlungen einzelner Textautor/-innen zeigen, sondern dass Definieren in einem Diskurs auch als teilweise unbewusster, überindividueller, transtextueller Prozess begriffen und analysiert werden muss. Die Exemplifizierung dieser These mündet in ein 11-Punkte-Modell der diskursiven Praxis des Definierens. Durch den diskurslinguistisch-praxeologischen Ansatz eröffnet die Arbeit neue Perspektiven für die linguistische Terminologie- und Definitionsforschung.
Das Projekt „Bürgernahe Sprache in der Finanzverwaltung“ verfolgt das Ziel, Texte aus dem Bereich der Steuerverwaltung in bürgernaher Sprache umzusetzen. Im September 2020 hat das IDS in enger Rückbindung an den Lenkungskreis des Projektes begonnen, eine Pilotstudie zu entwickeln. Hierin wurden ausgewählte Texte (Textbausteine) in einem Online-Umfrageformat mit verschiedenen Bewertungsskalen aufbereitet. Die Beispieltexte in der Studie stammen aus den Erläuterungstexten zum Einkommensteuerbescheid sowie den Ausfüllanleitungen zur Grundsteuer. Die Testpersonen sollten in mehreren unterschiedlichen Aufgabenblöcken ausgewählte Texte in Vorher- und/oder Nachher-Versionen über die Bewertungsskala bewerten. Zusätzlich konnten sie auf jeder Aufgabenseite Anmerkungen in einem Freifeld notieren. Das Ziel der Umfrage ist es, Bürgerinnen und Bürger zu ihren Eindrücken zu befragen und aus den Ergebnissen Rückschlüsse auf die Verständlichkeit der Texte zu ziehen. Ein wichtiges übergeordnetes Ziel der Pilotstudie ist es, die eigentlichen Adressatinnen und Adressaten der Texte in die Projektarbeit mit einzubeziehen. Die Einschätzungen und Anmerkungen der Beteiligten geben für den weiteren Projektverlauf hilfreiche Hinweise und werden in die weiteren Überlegungen und praktischen Umsetzungen einfließen. Dieser Bericht fasst die Ergebnisse aus der Pilotstudie zusammen. Er gibt zu den verschiedenen Blöcken, die die Probandinnen und Probanden bearbeitet haben, Einblick, wie die Testpersonen die ihnen präsentierten Texte bewertet haben. Dabei werden die quantitativ ausdrückbaren Ergebnisse durch grafische Darstellungen visualisiert und in textueller Form zusammengefasst. Die Antworten auf die offenen Fragen geben einen qualitativen Eindruck der Anmerkungen, die die Probandinnen und Probanden in Freifeldern hinterlassen haben.
Who is we? Disambiguating the referents of first person plural pronouns in parliamentary debates
(2021)
This paper investigates the use of first person plural pronouns as a rhetorical device in political speeches. We present an annotation schema for disambiguating pronoun references and use our schema to create an annotated corpus of debates from the German Bundestag. We then use our corpus to learn to automatically resolve pronoun referents in parliamentary debates. We explore the use of data augmentation with weak supervision to further expand our corpus and report preliminary results.
Diktirbuch: Übungen über die Regeln der deutschen Rechtschreibung, und Materialien zum Diktiren
(1832)
Travel guides and travel reports constitute an important source for the generation and spread of popular geopolitical epistemes and assumptions. With regard to colonial attitudes and their possible perpetuation, it is therefore of great interest what kind of information such texts convey regarding (post)colonial places, and how they contextualize it. The paper compares descriptions of Qingdao (Tsingtau), a German colonized territory between 1897 and 1914, in travel guides and related material from colonial and postcolonial times and in different European languages. It investigates what differences can be found between these descriptions in relation to time, language, and medium (print or online) of publication. Of particular interest is the question whether, and in what ways, colonial perspectives are perpetuated in present-day (especially German) travel literature.