Sprache im 20. Jahrhundert. Gegenwartssprache
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Das nationalsozialistische Mobilisierungsregime war darauf angelegt, Zeitgenoss:innen zu Positionierungshandlungen zu bewegen: vom allfälligen ‚Hitlergruß‘ über die Mitwirkung bei Parteiorganisationen oder Spendensammlungen bis hin zur Anleitung zur Selbstreflexion in Tagebüchern nationalsozialistischer Schulungslager. Allerdings sollte eine solche Aufforderung zur affirmativen Positionierung nicht allein als Zwang verstanden werden, denn dies würde ausblenden, dass viele Zeitgenoss:innen tatsächlich Anhänger:innen des Nationalsozialismus waren oder dem nationalsozialistischen Gesellschaftsprojekt zumindest nicht grundsätzlich oder in allen Punkten ablehnend gegenüberstanden. Demzufolge scheint es treffend, eine je nach Kommunikationssituation und Akteursposition variierende Mischung aus Positionierungsdruck und -bedürfnis für den hier untersuchten historischen Kontext anzunehmen.
In diesem Beitrag wird der in den vorliegenden zwei Bänden häufig verwendete Terminus ›Exklusion‹ systematisch und empirisch fundiert als akteursdifferenziertes Beschreibungselement interpretiert. Diese Akteursdifferenzierung(nach NS-Apparat, NS-affin, ausgeschlossen) bedeutet, Exklusion im Sinn einer sprachlich-kommunikativen Praktik bzw. Strategie und unter der Voraussetzung, dass wir es hinsichtlich der entsprechenden sprachlichen Realisate mit Identitätszu- und -abschreibungen zu tun haben, als Identitätsmanagement in den drei Handlungsperspektiven zu beschreiben.
Gegenstand des nachfolgenden Beitrags sind emotionale Positionierungen. Auf der Grundlage dieser Egodokumente, die 1934 entstanden sind und die von den Jahren vom Ersten Weltkrieg bis zum Jahr 1934, mit der Kernzeit der Weimarer Republik, erzählen, wird nach der Funktion von Gefühlsthematisierungen gefragt. Dabei wird vorausgesetzt, dass gerade in der sogenannten »Bewegungsphase« der NSDAP, der Phase des Aufstiegs zwischen Mitte der 1920er Jahre bis zur Machtübergabe 1933, bei aller Politisierung der Akteure dennoch Emotion und Affekt von großer, den Nationalsozialismus stabilisierender Bedeutung waren. Der nachfolgende emotionsgeschichtlich orientierte Versuch wird also auf der Grundlage retrospektiver sprachlicher Konstituierungen seitens der NSDAP-Mitglieder nach 1933 rekonstruiert. Sie formulieren diese Retrospektiven nach dem aus ihrer Sicht erfolgreichen Ende des »Kampfes«.
Mit der Jahrestagung 2021 lenkte das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS) den Blick auf die Wechselbeziehung zwischen Sprachgebrauch bzw. sprachlichem Handeln und der gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit. Damit ist der Gegenstandsbereich der Tagung umrissen: Es geht um die politische und gesellschaftliche Dimension von Sprache. Das Institut entspricht mit diesem Tagungsthema in besonderer Weise seiner Aufgabe, die Sprache in der Gegenwart und in ihrer jüngeren Geschichte zu untersuchen.
Vorwort
(2022)
Einleitung
(2022)
Führer
(2022)
Die folgende Analyse trägt der Zentralität des Führerkonzepts während des Nationalsozialismus Rechnung und skizziert – orientiert an der leitenden Akteurseinteilung in zentrale Repräsentanten des NS-Apparats, verschiedene Akteursgruppen der integrierten Gesellschaft und der Ausgeschlossenen sowie Akteure des Widerstands – ein differenziertes Bild des zeitgenössischen Sprachgebrauchs und der unterschiedlichen Verwendungsweisen des Führerkonzepts. Führer wird als nationalsozialistisches Leitkonzept konturiert, das eng mit weiteren Leitkonzepten wie Volk, Nation und Reich verknüpft war. Es besaß einerseits hohe integrative und affektive Kraft, diente andererseits – auf Seiten der Ausgeschlossenen, Dissidenten und des Widerstands – als Einsatzpunkt von Distanzierung und Kritik.
Einleitung
(2022)
Sprache ist politisch, und politisches Handeln vollzieht sich nie ohne Sprache. Sprachgebrauch bzw. sprachliches Handeln stehen dabei in einer unauflösbaren Wechselbeziehung mit der gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit. Diese Wechselbeziehung aus verschiedenen Perspektiven zu analysieren, ist das Ziel der in diesem Band versammelten Beiträge, mit denen die Jahrestagung 2021 des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache dokumentiert wird. Dabei geht es nicht zuletzt um die gesellschaftliche Verantwortung, die die Sprachwissenschaft – wie alle Sozialwissenschaften – hat. Diese Verantwortung besteht darin zu zeigen, welche Rolle und Funktion Sprache im gesellschaftlich-politischen Kontext zukommt. Mit diesem Anspruch bekommen Themen aus dem Bereich Sprache, Politik und Gesellschaft sowohl gegenwarts- als auch vergangenheitsbezogen eine neue Relevanz. Der Zugang ist dabei dezidiert transdisziplinär, neben der Linguistik sind insbesondere auch die Politologie und die Geschichtswissenschaft beteiligt.
In den letzten Jahren haben sich einige Themen mit Bezug zur deutschen Sprache zu sprachpolitischen Kontroversen entwickelt, die heute mit großer Intensität diskutiert werden. Es handelt sich um Themen wie das der geschlechtergerechten Sprache, das durch verschiedene rechtliche und publizistische Impulse eine immer noch wachsende Präsenz in Medien und Öffentlichkeit besitzt. Auch das Thema des sogenannten politisch korrekten Sprachgebrauchs führt zu polarisiert geführten Debatten. Der vorliegende Beitrag will diese Debatten in ihren Grundzügen nachzeichnen und dabei zeigen, wie diese Themen vermittelt über die Medien und den «Verein Deutsche Sprache» ihren Weg bis in die politische Sphäre gefunden haben. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist es wichtig, die Grenzen des Politischen so zu ziehen, dass die Sprache selbst in derartigen Kontroversen keinen Schaden nimmt.
Die Corona-Pandemie betrifft fast alle Facetten des öffentlichen Lebens und hat nicht nur erhebliche Auswirkungen auf den persönlichen Umgang miteinander, sondern beherrscht auch die Berichterstattung im großen Stil. In unserem Beitrag wollen wir zeigen, welche lexikalischen Spuren oder Trends der Coronakrise wir in der deutschen Online-Nachrichtenberichterstattung beobachten können, obwohl wir uns noch mitten in der Pandemie zu befinden scheinen. „Lexikalische Spuren“ bedeutet, dass wir z.B. die am häufigsten verwendeten Wörter, Wortbildungsprodukte rund um „Corona“ oder Häufigkeitskurven einzelner Wortformen analysieren. Auf der Grundlage von Online-Nachrichtenberichten aus 13 deutschsprachigen Quellen, die seit Anfang 2020 gesammelt wurden, zeigen wir unter anderem, wie über wöchentliche Übersichten der am häufigsten verwendeten Wörter zu sehen ist, wann die Corona-Pandemie zum dominierenden Thema in der Nachrichtenberichterstattung wird; wie eine wahre Explosion von Wortbildungsprodukten mit „Corona“ wie „Vor-Corona-Gesellschaft“ oder „Post-Corona Zukunft“ beobachtet werden kann, wie andere Themen – z.B. der Fußball – durch Corona verdrängt werden, wie sich die Diskussion um Auswege aus dem Lockdown in den Daten widerspiegelt, oder wie prominente Virolog/-innen in die gleiche „Frequenzliga“ wie Politiker/-innen aufsteigen.
Mit Entwicklungen in der Welt entsteht auch ein neuer Wortschatz, insbesondere in Zeiten großer gesellschaftlicher Umbrüche oder bedingt durch Krisen, denn neue Dinge, neue Umstände, »neue Normalitäten« müssen bezeichnet werden, damit darüber kommuniziert werden kann. Zugleich steigt die Gebrauchshäufigkeit älterer Wörter, weil sie aktuell für die Verständigung besonders relevant werden. Die in diesem Glossar präsentierten Begriffe thematisieren solche sprachlichen Auswirkungen der Coronakrise.
Um das Thema Gendern oder geschlechtergerechte Sprache hat sich eine hitzige gesellschaftliche Debatte entwickelt. Seit Anfang des Jahres ist die Diskussion um geschlechtergerechte Sprache medial wieder besonders präsent. Anlass ist u.a. die Überarbeitung der Bedeutungsbeschreibungen im Duden online. Vor kurzem widmete sogar Der Spiegel dem Thema den Hefttitel und einen Leitartikel (vgl. Bohr et al. 2021). Allerdings erschöpft sich die Diskussion leicht in Pro- und Kontra-Positionen, dabei gibt es eine ganze Bandbreite von Aspekten rund um das Thema ‚geschlechtergerechte Sprache‘ zu betrachten, die eine differenziertere Diskussion ermöglichen können. Ziel dieses Beitrags ist es, einige dieser Aspekte knapp und möglichst verständlich in die Debatte einzubringen.
Die Coronapandemie hat die Welt seit Anfang 2020 in vielfältiger Weise geprägt. Der Alltag hat sich gewandelt: Schule, Beruf, das tagtägliche Bewegen in der Öffentlichkeit oder in Verkehrsmitteln ist Regeln unterstellt, die es in dieser flächendeckenden und umfassenden Art so noch nicht gegeben hat. In diesem Wandel in der Welt ist auch die Sprache einer stetigen Entwicklung unterworfen. Neue Dinge in der Welt wollen erzählt und ausgetauscht werden. Und so kommt es in der Zeit der Coronapandemie zu zahlreichen Wortneuschöpfungen, Entlehnungen oder Bedeutungserweiterungen von bereits existierenden Wörtern. Das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim (IDS) beobachtet diese Entwicklungen und arbeitet u. a. im Projekt »Neuer Wortschatz« an der Dokumentation dieser lexikalischen Spuren, die die Coronapandemie im Wortschatz hinterlässt. Der Beitrag begibt sich auf Spurensuche nach Neuem, nach neu Ausgehandeltem und nach der Frage, wie die (Wort-)Geschichte wohl weitergehen wird.
Am 24. Februar 2020 wurde in der Schweiz die erste Infektion mit dem Coronavirus nachgewiesen. Zu diesem Zeitpunkt konnte wohl noch niemand ahnen, welche tiefgreifenden Konsequenzen die Corona-Pandemie für die Gesellschaft haben wird. Aus heutiger Perspektive überrascht es uns nicht mehr, dass das Pandemiegeschehen auch starke Auswirkungen auf die Sprache hatte und noch immer hat, denn Sprachgebrauch passt sich stets gesellschaftlichen Veränderungen an. Am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim dokumentieren und erforschen wir die ungewöhnlich starken und kurzfristigen Wirkungen der Pandemie auf die deutsche Sprache und fassen unsere Ergebnisse unter anderem in zahlreichen Beiträgen zusammen.
Wenn ich am Ende dieses Jahres an die Diskussionen zur deutschen Sprache zurückdenke, die ich bei Medienauftritten und in Veranstaltungen geführt habe, dann ist dabei immer wieder eine ganz bestimmte Frage gestellt worden: Wer entscheidet eigentlich darüber, wie wir sprechen und schreiben, was wir sagen dürfen und was nicht? Wer hat die Entscheidungsbefugnis über die Aufnahme neuer Wörter ins Deutsche, über gendergerechte Sprache oder über Rechtschreibregeln?
Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, die bisherigen Forschungen zur Sprachgeschichte des Nationalsozialismus im Lichte ihres Erkenntnispotenzials für gegenwärtige historiografische Fragestellungen zu diskutieren. In einem ersten Schritt wird die Forschungsgeschichte zur Sprache des beziehungsweise im Nationalsozialismus von der frühen Nachkriegszeit bis in die 1980er-Jahre skizziert. Deutlich wird hier vor allem, dass in dieser Phase zwar wichtige Arbeiten entstanden sind, jedoch methodische und theoretische Begrenzungen zahlreiche blinde Flecken bestehen ließen. In einem zweiten Schritt wird dargelegt, mit welchen Erkenntnisinteressen und Instrumentarien die jüngere Forschung sich auf diese blinden Flecken konzentriert und welche Ergebnisse sie zutage gefördert hat. Dabei sollen vor allem diejenigen Aspekte benannt werden, die nach Ansicht des Verfassers bei einer noch zu schreibenden Sprach- und Kommunikationsgeschichte des Nationalsozialismus zu beachten sind. Es handelt sich konkret um eine Ausweitung der Perspektive in Richtung unterschiedlicher Kommunikationssituationen und heterogener Akteurskonstellationen, um Sprachgebräuche unter den Diskursbedingungen des Nationalsozialismus angemessen beschreiben zu können.
Vages Sprechen in psychotherapeutischen Diagnosegesprächen. Eine gesprächsanalytische
Untersuchung
(2018)
Der Zusammenhang von Vagheit und Sprache ist bereits vielfach behandelt worden, allerdings überwiegend aus philosophischer oder semantischer Perspektive. Demgegenüber verfolgen wir in dieser Arbeit einen gesprächsanalytischen Ansatz, um Phänomene sprachlicher Vagheit zu untersuchen. Wir fokussieren uns dabei speziell auf Vagheit in psychotherapeutischen Diagnosegesprächen.
Vagheit, wie sie in alltäglicher Kommunikation erfahren wird, lässt sich beschreiben als semantische Unterspezifizierung, die durch den Gebrauch unklarer Bezüge oder zu allgemeiner Ausdrücke entsteht. Unser Verständnis von Vagheit unterscheidet sich damit fundamental von der philosophischen und semantischen Kategorie „Vagheit“. Es handelt sich unserem Verständnis nach um eine interaktive Kategorie, die nur durch das Auftreten interaktiver Verwerfungen sichtbar wird.
Vages Sprechen kann den Patienten dazu dienen, sensible Themen zu vermeiden, aber mehr noch dazu, ein neues Thema zu setzen oder den thematischen Schwerpunkt des laufenden Gespräches zu verschieben. Therapeuten reagieren auf vages Sprechen, indem sie unmittelbar oder mittelbar auf die unterspezifizierte Äußerung eingehen oder indem sie die Patienten mit Hilfe von Spezifikationsangeboten unterstützen, insbesondere im Bereich sensibler Thematiken. Formal und/oder funktional ähnliche sprachliche Phänomene sind Teilresponsivität und Hochstufung durch Rückstufung.
Vages Sprechen hat auch Auswirkungen auf die Allianz zwischen Patienten und Therapeuten: Therapeuten können die Hinweise der Patienten nutzen, um das Diagnosegespräch im Hinblick auf die von den Patienten gesetzten Schwerpunkte zu organisieren.