@incollection{Kirchhof2019, author = {Paul Kirchhof}, title = {Rechtsprechen ist mehr als Nachsprechen von Vorgeschriebenem}, series = {Sprache und Recht}, editor = {Ulrike Ha{\"s}-Zumkehr}, publisher = {de Gruyter}, address = {Berlin [u.a.]}, isbn = {3-11-017457-X}, doi = {10.1515/9783110622836-010}, url = {https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bsz:mh39-92057}, pages = {119 -- 135}, year = {2019}, abstract = {Das Recht {\"u}berbringt seine Verbindlichkeiten durch Sprache, nimmt damit kulturelle Gemeinsamkeiten der Rechtsgemeinschaft auf und regelt in dieser Kontinuit{\"a}t von Sprache und Kultur eine Ordnung des mitmenschlichen Zusammenlebens. Dabei bem{\"u}ht sich die Rechtssprache um N{\"u}chternheit und Rationalit{\"a}t, um ihre Aussagen m{\"o}glichst verl{\"a}sslich zu {\"u}berbringen. Allerdings ist jeder Rechtssatz auslegungsbed{\"u}rftig, weil die Vielfalt der regelungsbed{\"u}rftigen F{\"a}lle oft nicht vorausgesehen und auch nicht pr{\"a}gnant begriffen werden kann, das Verstehen der Aussage auch vom Gesetzesadressaten abh{\"a}ngt, die Rechtssprache vielfach wegen ihrer Verbindlichkeit auch auf Sprachumdeuter und Sprachf{\"a}lscher trifft. Die Bestimmtheit eines Rechtssatzes unterscheidet sich nach der Striktheit der Anordnung, der Spezialit{\"a}t des Regelungsbereichs, der Vervollst{\"a}ndigung der Regel durch die Realit{\"a}t oder durch die Autorit{\"a}t des Regelnden. Interpret des Rechts ist dessen Sprecher. Zun{\"a}chst spricht der Gesetzgeber im Gesetzestext bewusst in einer entpers{\"o}nlichten Form, um ein H{\"o}chstma{\"s} an Objektivit{\"a}t, Problemoffenheit und Allgemeinheit sicherzustellen. Sodann steht der Rechtsstaat f{\"u}r Nachfragen zu dem mit seinem Wort Gemeinten bereit. Er spricht durch die gesetzesanwendende Beh{\"o}rde mit dem Betroffenen {\"u}ber Inhalt und Auswirkungen des Gesetzes in der konkreten Lebenssituation, zieht Folgerungen aus dem Gesetz f{\"u}r den Einzelfall in der sprachlichen Form eines Verwaltungsaktes, er{\"o}ffnet f{\"u}r den nicht einverstandenen Adressaten die M{\"o}glichkeiten von Widerspruch oder Einspruch, garantiert bei zweifelhaftem oder streitigem Recht den Weg zu den Gerichten, zur Recht-Sprechung. Der Verfassungsstaat unterliegt also nicht dem Irrtum, allein durch den Wortlaut des Gesetzes gleiche Rechtsfolgen an alle Gesetzesadressaten {\"u}berbringen und diese auch f{\"u}r zuk{\"u}nftige, noch nicht vorausgesehene Anfragen an das Recht festschreiben zu k{\"o}nnen. Die Bindung der Rechtsgemeinschaft an das Recht wird in einem arbeitsteiligen Sprachvorgang gesichert: Der Gesetzgeber regelt die langfristigen, generellen, auf Dauer verbindlichen Vorgaben; die Verwaltung verdeutlicht diese Vorgaben f{\"u}r Gegenwart und Einzelfall; die Rechtsprechung {\"u}berpr{\"u}ft diese Gesetzesanwendung in der Verantwortlichkeit des letztverbindlichen Sprechers. Der Rechtsstaat ist stets offen f{\"u}r das Gespr{\"a}ch {\"u}ber die geltenden Rechtsverbindlichkeiten und ihre Auswirkungen im individuellen und konkreten Einzelfall.}, language = {de} }