TY - CHAP U1 - Buchbeitrag A1 - Hörisch, Jochen ED - Kämper, Heidrun ED - Schmidt, Hartmut T1 - "Seekrankheit auf festem Lande" - Zur Krise der Literatursprache T2 - Das 20. Jahrhundert. Sprachgeschichte - Zeitgeschichte N2 - Die Sprache der Literatur ist krisenfrei. Denn Dichtung ist bekanntlich - und bekanntlich heißt: das ist seit Hesiod und Platon uralteuropäisches Basiswissen - nicht auf Wahrheit verpflichtet. Ihre Betriebslizenz, wenn sie denn erteilt wird, ist vielmehr das Recht zur systematischen Lüge. Was auch zur Folge hat, daß es wenig sinnvoll ist, literarische Aussage mit Sätzen zu bestreiten wie „Hans Castorp war doch gar nicht in Davos“ oder „Madame Bovary hat ihren Mann doch gar nicht betrogen“. Schöne Literatur ist negations- und also ganz ungewöhnlich krisenimmun. Diese Einsicht in die Krisenimmunität der literarischen Sprache ist so alt und schlicht, daß sie ein wenig Brisanz erst gewinnt, wenn die elementare Verläßlichkeitskrise des Mediums Sprache so konstrastiv zum Modethema avanciert - also zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dichtung muß nämlich in gesteigerter Irritation erfahren, daß sie an dieser Krise nicht teilhat - gewissermaßen seit knapp dreitausendjähriger Wartezeit immer noch nicht an der so offen ausbrechenden Sprachkrise teilhat. Daß Dichtung lügt, ist seit ihren Anfängen unumstritten. Streiten kann man dann darüber, ob und ggf. unter welchen Rahmenbedingungen die systematische Lüge der Dichtung statthaft ist oder ob man die Dichtung, weil sie lügt, verbieten soll. Aber es wäre auch und gerade in der Zeit moderner Ausdifferenzierung von Funktionssystemen absurd, ausgerechnet vom fiktionalen Medium Literatur zu erwarten, daß es richtige Bezeichnungen oder gar wahre Namen für Dinge, Sachverhalte und Zusammenhänge bereithält. Die Sprache der Literatur folgt, um modern und also systemtheoretisch zu reden, nicht dem Code richtig/falsch, sie ist vielmehr dem Code stimmig/nicht- stimmig verpflichtet. T3 - Jahrbuch / Institut für Deutsche Sprache - _ 1997 KW - Deutsch KW - Literatursprache Y1 - 1998 UN - https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bsz:mh39-89074 SN - 3-11-016156-7 SB - 3-11-016156-7 U6 - https://doi.org/10.1515/9783110622638-004 DO - https://doi.org/10.1515/9783110622638-004 SP - 27 EP - 42 PB - de Gruyter CY - Berlin [u.a.] ER -